Liebeskind
Gegend war, musste Doreen mittlerweile wohl geheiratet haben, denn unter ihrem Mädchennamen fand Elsa keinen Eintrag im Telefonbuch. Also hatte sich Doreen tatsächlich einen Kerl gesucht, der dumm genug war, sie zu ernähren. Elsa begriff bis heute nicht, was eine Frau dazu bewegen konnte, ihre Unabhängigkeit gegen die vermeintliche Sicherheit eines gemachten Nestes einzutauschen. Sie selbst hätte ihre Arbeit oder ihren Namen niemals aufgegeben. Dabei kam nur Frust heraus, das hatte sie am eigenen Leib erfahren. Und was sollte ein Kind schon von solch einer Mutter lernen? Vielleicht hatte Vera ihr damals auch deshalb wehgetan. Weil sie nicht wusste, wohin mit ihrer großen Wut auf sich selbst. Warum auch immer. Was zählte, war die Verletzung, die Elsa erfahren hatte. Die Ungerechtigkeit gegen ein Kind, das sich nicht wehren konnte und am Ende sogar noch glaubte, es trügeselbst Schuld an seinem Unglück. Und das alles nur, weil Frauen wie Vera entweder zu dumm oder zu faul waren, sich ihren eigenen Platz in der Welt zu erkämpfen. Doreen war wahrscheinlich ebenfalls in die Fußstapfen ihrer Mutter Vera getreten. Dabei hatte sie als Kind so große Pläne gehabt, Tierärztin hatte Doreen werden wollen. Und einen netten Mann, ein Haus und ein paar liebe Kinder hatte sie sich noch dazu gewünscht. Früher jedenfalls war es für Doreen unvorstellbar gewesen, auf einen eigenen Beruf zu verzichten.
Elsa hatte neuen Mut gefasst. Und sie hatte erkannt, dass ihre Aufgabe noch lange nicht beendet war. Nur hierin lagen die Gründe für ihre Zweifel und Schmerzen der Tage zuvor. Elsa hatte erkannt, dass sie weitermachen musste, und versucht, den sich daraus ergebenden Problemen auszuweichen. Bislang war es ihr immer unmöglich erschienen, Frauen zu bestrafen. Aber sie konnte schließlich nichts dafür, dass es unter ihren Geschlechtsgenossinnen auch solche gab, die es nicht verdient hatten, zu leben. Es war so schwer, zu töten. Doch wenn Elsa jetzt aufgab, würde niemals alles gut werden. Nein, dazu durfte sie es nicht kommen lassen, sie hatte schließlich auch ein Recht auf Glück. Elsa würde den Weg bis ganz zum Schluss weitergehen. Sie wusste nur noch nicht, wie sie an die Adresse von Doreen herankommen sollte.
Früher hatten ihre Mutter Vera und Frau Possel manchmal an den Nachmittagen beieinandergesessen und Kaffee getrunken. Hatten sie damit aufgehört, nachdem Elsa fortgegangen war? Doch selbst wenn, man verlor einander nicht einfach aus den Augen, wenn man im selben Dorf lebte. Aber lebte Frau Possel überhaupt noch immer indieser Gegend? In jedem Fall dürfte Vera wissen, wo Doreen untergeschlüpft war. Schließlich hatte sie sich schon immer viel zu sehr für die Belange ihrer Nachbarn interessiert. Vera würde es wissen, oder besser gesagt, sie hatte es gewusst. Denn falls Robins Darstellung vom Zustand ihrer Mutter den Tatsachen entsprach, konnte sich Vera heute nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern. Also blieb nur der indirekte Weg, und Elsa würde noch einmal das Gespräch mit Robin suchen müssen. Immerhin hatte er von jeher eine Schwäche für Doreen gehabt. Sie brauchte jedoch einen guten Vorwand dafür, also würde Elsa behaupten, dass sie ihn bei der Pflege von Vera unterstützen wolle. Vielleicht würde sie sogar über ihren Schatten springen und ihre Mutter besuchen. Das war ein hoher Preis für eine Information. Doch Elsa war bereit, diesen Preis zu bezahlen, denn sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass ihr Bruder wusste, wohin Doreen verschwunden war. Gerade weil er früher erfolglos hinter Doreen her gewesen war, hatte Robin bestimmt mitbekommen, wer der Kerl war, der bei Doreen hatte landen können. Er wusste ganz sicher, wessen Namen seine alte Flamme heute trug. Elsas rechte Gesichtshälfte brannte. Das tat sie immer, wenn sie in Aufruhr war.
6
Anna war froh, den Handwerkern in ihrem Haus entkommen zu sein. Und sie hatte sich fest vorgenommen, heute keinerlei Ärger mehr zuzulassen. Auf ihrer Fahrt ins Büro konzentrierte sie sich darauf, nicht mehr hektisch wie ein Fisch an Land nach Luft zu schnappen. Stattdessen atmete sie tief in den Bauch ein und ganz langsam wieder aus. Gleichzeitig versuchte sie, nur positive Gedanken zuzulassen. Wie ein Mantra murmelte sie deshalb auch immer wieder einen Satz in sich hinein, der ihr schon oft dabei geholfen hatte, sich zu erden. Er lautete: In meinem Leben findet nur statt, was gut und richtig für mich ist. – Und heute gelang es ihr
Weitere Kostenlose Bücher