Liebeskind
tatsächlich. Als Anna in der Dienststelle ankam, fühlte sie sich erfrischt und ausgeglichen. Auf ihrem Schreibtisch neben der Computertastatur lag ein Zettel von Weber. „Sind in der Kantine“, stand dort in seiner akkuraten, mikroskopisch kleinen Handschrift geschrieben. Anna schlenderte in die Kantine hinüber und entdeckte Weber in der Nichtraucherzone zusammen mit Sigrid Markisch an einem Tisch sitzen. Die Giraffe hatte sich sehr weit zu Weber hinübergebeugt. Sie tätschelte seine Hand und lachte, dass man es durch den ganzen Raum hören konnte. Hätte Anna es nicht besser gewusst, hätte sie vermutet, dass Sigrid Markisch mit Weber zu flirten versuchte. Jetzt hatte Weber Anna entdeckt und winkte sie zu sich heran.
„Haben Sie schon von den Neuigkeiten gehört?“, fragte er. „Martin Schönauer wird ab sofort das LKA leiten. Hoffentlich zwingt er mich in Zukunft nicht, in ledernen Kniebundhosen und Holzfällerhemden zum Dienst zu erscheinen. Gegen einen Bierautomaten im Flur hätte ich dagegen nichts einzuwenden.“
Er lachte, aber Anna tat ihm nicht den Gefallen, mit einzustimmen.
„Soll ich Ihnen einen Salat holen?“
„Hab schon zu Haus gegessen, danke.“ Die Kommissarin setzte sich hin. „Da hat sich unsere Innenbehörde ja den Richtigen ausgesucht. Schönauer soll ein knallharter Sanierer sein, der sogar im Freistaat mit seinem autoritären Gehabe angeeckt ist.“
„Die Bürgerschaft muss doch endlich etwas gegen die immer höhere Verschuldung Hamburgs unternehmen. Ich halte Herrn Schönauer für einen fähigen Mann. Er wird dafür sorgen, dass die Stadt nicht weiter in die unvermeidliche Pleite steuert“, konterte Sigrid Markisch.
Anna hatte Mühe, die Giraffe jetzt nicht wie eine Schmeißfliege zu fixieren, die ihr im Hochsommer auf einer öffentlichen Toilette um die Ohren brummte. Von ihrer mühsam erworbenen Ausgeglichenheit war kaum mehr etwas übrig geblieben.
Und um es noch schlimmer zu machen, fügte Weber hinzu: „Frau Markisch hat mir gerade erzählt, dass sie gern ganz nach Hamburg wechseln möchte.“
„Ja, mir gefällt der frische Wind in Ihrer Stadt“, ergänzte diese katzenhaft.
Anna kämpfte um ihren guten Vorsatz, sich heute auf keinen Fall noch einmal ärgern zu wollen, und zwang sich zu einem ruhigen Tonfall: „Das kann ich gut verstehen,denn mit dem frischem Wind ist das in Hannover ja so eine Sache. Aber auch, was die finanzielle Situation angeht, steht es mit Ihrer Stadt nicht gerade zum Besten. Zudem wird es jetzt wohl nicht mehr lange dauern, bis Ihr so genannter frischer Wind in Form von Sparmaßnahmen auch bei Ihnen im niedersächsischen Präsidium ankommen wird.“
„Umso besser.“ Sigrid Markisch schaute auf ihre Armbanduhr. „Ich würde ja gern noch ein bisschen länger mit Ihnen plaudern, aber ich muss mich sputen. War schön mit Ihnen, Lukas. Wir sollten das bald mal wiederholen.“
„Wirklich zu nett, Lukas“, äffte Anna wenig später leise den Tonfall der Giraffe nach. Dann stützte sie ihren Kopf in die Hand und kramte in ihrer Hosentasche herum. Irgendwo musste doch der Zettel geblieben sein, auf dem Anna den Namen von Paulas ehemaligem Mitschüler mit den zu kurzen Hosen notiert hatte. Statt eines Papiers fühlte sie aber nur einen kleinen Plastikbeutel. Das Gras von Ben. Der Gedanke, Weber jetzt davon zu erzählen, was sie hier bei sich trug, heiterte ihre Laune augenblicklich auf. Sie grinste breit.
Weber musterte Anna irritiert.
„Ich glaube, die Markisch ist scharf auf einen unserer Jobs, Anna. In Hannover soll es zwei bis drei Jahre länger als hier dauern, von einer Besoldungsklasse in die nächst höhere zu rutschen.“
„Sie wird wieder gehen.“
Anna wusste, dass Sigrid Markisch keine Chance mehr auf eine Stelle in ihrem Dezernat hatte, wenn Günther Sibelius von ihrer Einstellung zu Martin Schönauer erfuhr. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als abzuwarten. Früher oder später würde die Giraffe den entscheidenden Fehler machen und mit dem Chef über dieses Thema sprechen.
„Kommen Sie, Weber, wir kuscheln lieber im Büro weiter. Außerdem muss ich dringend telefonieren.“
Anna Greve erreichte ihre Freundin Paula gleich mit dem ersten Anruf.
„Dirk Adomeit heißt er, Schätzchen. Wir wär’s mal mit ’ner Frischzellenkur?“
Nun würde sich Anna also auf die Suche nach dem Mann begeben, der als Junge eine Brille mit Gläsern so dick wie die Böden von Coca-Cola-Flaschen getragen hatte. Zum Glück war sein
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