Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
ausgeschlafen sein.«
Schuster ging, nicht ohne seinen Kumpels zuzugrinsen. Aber es war kein Siegerlächeln, eher das Mundwinkelverziehen eines trotzigen Kleinkindes.
Mathilde wandte sich der Klasse zu. »Noch jemand, der seine Körperfunktionen nicht unter Kontrolle hat? – Gut. Dann wenden wir uns jetzt den Winkelfunktionen zu.«
Lukas stand vor dem Küchenwagen an. Zwei Häftlinge teilten labberige Brote, Marmelade und Diätmargarine aus. Das Fatale war: Weil es so wenig davon gab, mochte man das Zeug sogar irgendwann. Lukas war einer der letzten in der Schlange. Die vor ihm hatten es heute nicht besonders eilig, sie nervten den austeilenden Häftling mit Marmeladentauschwünschen und Beschwerden über angebliche Bevorzugung des Vordermannes. Lukas wartete geduldig, bis sie mit ihrem Palaver und den Kindereien fertig waren. Auf der anderen Seite des Treppenhauses lehnte Kusak in der Tür, trank aus einem Becher und grinste. Eine Vorahnung beschlich Lukas, als er mit dem Tablett in den Händen seine Zelle betrat.
Karim lag zusammengekrümmt neben der Kloschüssel und japste nach Luft.
»Was ist passiert?«
»Nichts«, keuchte Karim.
Lukas richtete ihn auf. Wie immer waren keine Verletzungen an Gesicht und Händen zu erkennen. Lukas zog Karims Sweatshirt hoch. Der ganze Oberkörper zeigte eindeutige Spuren von Schlägen und Tritten. Dazu kamen Schnitte wie von einer Rasierklinge.
»So kannst du nicht arbeiten. Sag, du hättest dir den Magen verdorben«, riet Lukas.
»Muß heute nicht arbeiten. Anwaltsbesuch.« Karims Stimme war ein heiseres Flüstern.
»Um so besser.«
Lukas half Karim auf das Bett und brachte ihm ein nasses Handtuch, um das Blut abzuwischen. Nicht, daß ihm allzuviel an Karim gelegen hätte, aber der junge Aserbeidschaner war ruhig, fügsam und sauber. Einen besseren Mitbewohner konnte man sich an diesem Ort nicht wünschen. Keiner von beiden kam auf die Idee, den Vorfall zu melden. Solche Dinge regelte man ohne die Obrigkeit. Doch selbstverständlich würde der Übergriff Konsequenzen haben, denn wenn er Kusak das durchgehen ließ, würde Lukas hier bald kein Bein mehr auf den Boden bekommen.
Mathilde hatte Die gläserne Zelle inzwischen gelesen. Es war mühsam gewesen, denn eigentlich las Mathilde lieber Sachbücher. Geschichten zu lesen, die sich jemand ausgedacht hatte, empfand sie als Zeitverschwendung. Dieses Buch war noch dazu deprimierend. Sicherlich ließen sich die Verhältnisse in amerikanischen Gefängnissen während der Sechziger nicht mit dem modernen deutschen Strafvollzug vergleichen. Und doch hatte sie, während sie Kapitel um Kapitel in sich hineinwürgte, ständig Lukas Feller vor Augen: seinen Cäsarenkopf mit den markanten Kerben, den klassisch-schönen Mund und seine Augen, diese wasserklaren Eisblöcke, deren unbewegter Blick dennoch jede Regung verfolgte.
Seit Tagen überlegte sie, ob sie es tun sollte. Am Sonntag hatte sie sich mit ihrer Großmutter darüber beraten.
– › Wo ist das Risiko?‹ hatte sie gefragt. ›Ich erfahre es nicht, wenn er das Buch einfach wegwirft. Aber vielleicht mache ich ihm damit ja eine Freude.‹
– ›Sieh an, Mathilde. Es geht also darum, einem bedauernswerten Häftling eine Freude zu machen? Das glaubst du doch selbst nicht, Mathilde Degen, die du bisher noch nie sonderlich sozial veranlagt warst!‹ - hörte Mathilde ihre Großmutter antworten, natürlich nur in Gedanken. Schließlich war Mathilde nicht verrückt, auch wenn sie sich mit einem Grabstein unterhielt. Merle Degen, geborene Steinberg, geboren am 14. 3. 1916 – verstorben am 28. 4. 2000 verkündete die goldfarbene Inschrift auf dem grauen Granit.
– ›Zeit, damit anzufangen‹, hielt Mathilde dagegen.
– ›Dir sind doch die Konsequenzen bewußt, die eine solche Geste nach sich ziehen kann? Bestimmt wird er dir einen Dankesbrief schreiben, dann mußt du antworten, und es wird kein Ende nehmen.‹
– ›Was ist dabei, wenn mir ein Häftling schreibt?‹
– ›Ein Mörder, Mathilde! Er hat getötet, er gehört nicht mehr zur zivilisierten Welt.‹
– ›Unsinn! Um das zu beurteilen, müßte ich Details über seine Tat erfahren. Außerdem kann ich den Kontakt jederzeit abbrechen. Schließlich ist er eingesperrt, und ich bin draußen‹, hatte sie konstatiert und danach eilig die Grabstätte verlassen, denn es näherte sich eine ältere Dame, die sie mißtrauisch ansah.
Entschlossen ging sie nun mit dem Buch ins Arbeitszimmer und suchte nach einem
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