Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Blick auf ihre Wetterstation. Vierundzwanzig Grad, dreißig Prozent Luftfeuchtigkeit, Druck steigend. Also keine Jacke und den Florentiner.
Pünktlich um 7.58 Uhr traf Mathilde in der Praxis ihres Kardiologen ein. Sie wurde von einer Angestellten in ein Zimmer geleitet, das es im vergangenen Jahr so noch nicht gegeben hatte: sechs kognakbraune Ledersessel, ein Wasserspender, ein Kaffeeautomat. Auf einem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes lagen Geo, National Geographic und Cicero , die knochenfarbenen Glasfaserwände kleideten psychedelisch anmutende Bilder. Vorzeigeobjekte aus der Maltherapie in einer psychiatrischen Klinik, vermutete Mathilde. Sie war die einzige Patientin im Raum und hatte gerade ihr Buch aus der Tasche geholt, als die Tür geöffnet wurde. Drei Männer kamen herein. Zwei von ihnen trugen dunkelblauen Jacken, deren Ärmel das Niedersachsenpferd zierte.
Mathilde schaute diskret in ihr Buch. Die Männer setzten sich in die drei Sessel ihr gegenüber.
»Guten Morgen.« Es war eine tiefe, leise Stimme.
Sie sah auf. Seine Augen hatten die Farbe von angelaufenem Silber.
»Guten Morgen«, gab sie zurück und richtete ihren Blick wieder auf die Zeilen ihres Buchs. Aber an Lesen war gar nicht zu denken. Sie konnte spüren, wie er sie ansah.
Mathilde straffte ihre Schultern, als könnte sie damit seine Blicke abstreifen, und musterte nun ihrerseits den Mann: Er saß aufrecht da, zwei scharfe Falten zogen sich von den Flügeln einer griechischen Nase zu den spöttischen Mundwinkeln. Ein aristokratisches, intelligentes Gesicht, dessen Mund auf jeden herabzulächeln schien. Er war gründlich rasiert. Das braune Haar war kurz und an den Schläfen ergraut. Das Leder seiner Schuhe glänzte. Er trug eine schwarze Hose, ein sandfarbenes Hemd, unter dem sich kräftige Schultern abzeichneten, und Handschellen.
»Sind Sie herzkrank?« fragte er.
»Wohl kaum.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Steine werden nicht krank. – Und Sie?«
»Ich auch nicht. Ich habe kein Herz. Ich bin ein Mörder.«
»Ah, ja. – Ich bin Lehrerin.«
Ein kurzes Schweigen trat ein.
»Ich bin zu einer Kontrolluntersuchung hier«, erklärte Mathilde. »Einmal im Jahr, am Ende der Ferien.«
»Ein letzter Check vor der Feindberührung.«
»Das haben Sie präzise auf den Punkt gebracht«, sagte Mathilde.
»Das war einmal mein Beruf. Motivationstraining und Kommunikation. Mein Name ist Lukas Feller. Vielleicht haben Sie seinerzeit von mir und meinen Seminaren gehört.«
»Nein, bedaure.«
»Ist auch schon einige Jahre her. Sie brauchen mir Ihren Namen nicht zu nennen, wenn Sie nicht mögen.«
Tatsächlich überlegte Mathilde. War es klug, einem Mörder seine Identität preiszugeben? Lieber nicht. – Aber wenn er einem gefiel, der Mann, nicht der Mörder? Konnte man das überhaupt trennen?
»Welche Fächer unterrichten Sie?« fragte er. »Halt, lassen Sie mich raten, einverstanden?«
Mathilde nickte.
Er betrachtete sie erneut, nun, mit ihrer Erlaubnis, geradezu unverschämt. Die Augen eines Alligators, dachte Mathilde. Kaum ein Wimpernschlag, ein kühles Taxieren. Dann setzte er seine Worte, langsam und überlegt. Er schien gewohnt, daß man ihm zuhörte und ihn nicht unterbrach.
»Ihre Kleidung ist von lässiger Eleganz mit einem Hauch Extravaganz. Sie haben eine drahtige, muskulöse Figur und kräftige Hände. Deutsch und Französisch. Vielleicht auch Sport.«
»Mathematik, Physik und Spanisch.«
Er nickte bedächtig. »Verzeihen Sie. Das habe ich übersehen.«
»Was?«
»Ihren Hang zur Grandezza.«
»Vielleicht sind Sie ein wenig aus der Übung«, vermutete Mathilde.
»Welche fünf Worte würden Sie in Ihren Grabstein meißeln lassen?« fragte er.
»Wie bitte?«
»Fünf Worte. Die üblichen Konventionen außer acht gelassen.«
Mathilde lehnte sich zurück, überlegte kurz und sagte dann: »Sie war eine verdammt gute Lehrerin.«
»Das sind sechs.«
»Es ist mein Grabstein.«
Er lächelte.
Der König der Schwerter. Dieser Mann hier war definitiv der König der Schwerter: die Verkörperung vom Geist beherrschter Leidenschaft. Einer, der Haltung bewahrte, obwohl er offensichtlich verloren hatte. Eine Aura der Souveränität und Dominanz umgab ihn, und natürlich, wie jeden Herrscher, etwas Einsames.
Mathilde gehörte nicht zu den Frauen, die ihr Leben damit zubrachten, auf den Richtigen zu warten. Bis jetzt war sie sich nicht einmal eines Mangels bewußt gewesen. Daß sie einen Mann wie diesen schon lange
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