Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
stets ohne Zeugen. Daß Florian heute, ein gutes Jahr danach, an Mathildes Geburtstagstafel sitzen durfte, hatte ihn überrascht.
Jetzt war das Essen vorbei – Sommersalat mit Sprossen, gefüllte Zucchiniblüten, Rochen in Limonensoße, Zabaione.
»Es war köstlich, wie immer«, rief Direktor Ingolf Keusemann nach dem Espresso.
»Ich muß unbedingt das Rezept von diesem Dorsch haben!« verlangte seine Frau.
»Rochen«, korrigierte Mathilde.
»Der ist sicher total kalorienarm!« Brigitte Keusemann trug eines ihrer mehrlagigen Kleider, mit denen sie ein paar Kilo Übergewicht zu kaschieren versuchte.
»Wie du das immer so hinkriegst, du hast bestimmt den ganzen Tag geschuftet«, meinte Leona Kittelmann anerkennend.
»Und trotzdem sieht sie strahlend und erholt aus«, fügte Florian hinzu und küßte Mathilde zart den Handrücken. Bis jetzt war Mathilde mit Florians Auftreten sehr zufrieden. Er spielte die ihm zugedachte Rolle perfekt und ohne daß Mathilde sie ihm zuvor hätte erklären müssen. Hoffentlich, überlegte sie, zog er aus ihrer Einladung keine falschen Schlüsse.
»Es ist alles eine Frage der Organisation«, entgegnete Mathilde.
»Fühlen Sie sich wohl in Dresden?« wandte sich Direktor Keusemann an Florian.
»Ja. Mathe und Physik scheinen die Lieblingsfächer der Dresdener Schüler zu sein«, grinste Florian.
»Passen Sie nur auf, daß Sie nicht erschossen werden«, warf Brigitte Keusemann ein. Ihr Gatte schleuderte ihr einen vernichtenden Blick zu.
»Mathilde, geben Sie meiner Frau bitte keinen Wein mehr«, bat er.
Man trank einen weißen Sancerre – bis auf Ingolf Keusemann, der fragte: »Kann ich noch was von dem Anghelos haben? Rotwein ist besser für meine Pumpe.«
Aber nicht für meine Tischwäsche, dachte Mathilde beim Anblick der Olympischen Ringe, die sein Glas auf dem weißen Leinen hinterlassen hatte.
»Ich war neulich auch beim Kardiologen, zur Generalüberholung«, hörte sie sich sagen, während sie ihrem Gast nachschenkte. »Ich habe mit einem Häftling im Wartezimmer gesessen. Er trug Handschellen und wurde von zwei hünenhaften Männern eskortiert.«
Mathilde hatte nicht davon anfangen wollen, wirklich nicht, und niemand war erstaunter über ihre Worte als sie selbst. Deshalb fügte sie schnell hinzu: »Ich bin noch nie einem Mörder begegnet. Zumindest nicht wissentlich.«
»Einem Mörder?« fragte Florian interessiert. »Woher weißt du das?«
»Weil er es gesagt hat.«
»Wow«, rief Leona beeindruckt aus und kippte ihren Wein auf einen Zug hinunter. Ihre vollen Wangen glühten, und sie roch heute besonders intensiv nach Pudding. Leona benutzte Vanille-Bäder, Vanille-Cremes und Vanille-Shampoos. Für diesen Abend hatte sie ihr Haar zu einem schlampigen Knoten hochgesteckt, aus dem sich allmählich die Locken lösten wie bei einer Schlingpflanze. Mathilde konnte kaum noch hinsehen, so sehr juckte es sie in den Fingern, auf Leonas Kopf für Ordnung zu sorgen.
»Wen hat er ermordet?« fragte Ingolf Keusemann.
»Das hat er mir nicht verraten«, bedauerte Mathilde und versuchte, den Kurs zu korrigieren: »Habt ihr gewußt, daß Häftlinge wie Privatpatienten abgerechnet werden? Auf Staatskosten!«
»Nein! Tatsächlich?« empörte sich Brigitte Keusemann.
»Ja, ich habe nachgefragt. Von wegen Zweiklassengesellschaft«, bemerkte Mathilde, und dachte dabei an Franziska. Sie hatte erwogen, ihre Mutter einzuladen. In Gesellschaft konnte sie recht espritvoll sein. Aber womöglich hätte sie nach dem Dessert einen Joint gebaut, und außerdem war zu befürchten gewesen, daß sie ihren morschen Galan mitbrachte. Mathilde überlegte, ob sie ein einziges Paar kannte, bei dem sie beide mochte. Nein. Eine Hälfte war immer enttäuschend. Dieser Schulpsychologe, den Leona heute zum erstenmal dabeihatte, war auch nicht der Mann, den sich Mathilde idealerweise an ihrer Seite vorstellte. Außer den Begrüßungsworten und einem Lob für das Essen hatte er noch kein Wort gesagt. Vielleicht war er ein stilles, tiefes Wasser. Oder Leona hatte Torschlußpanik – mit vierunddreißig.
»Jeder Mensch kann unter bestimmten Voraussetzungen in eine Situation kommen, in der er einen anderen tötet. Hat George Bernard Shaw gesagt«, warf Florian in die Runde.
»Und ich wette, jeder Richter, der den Kollegen Isenklee kennen würde, würde den Täter begnadigen«, sagte Leona.
»Und er würde obendrein fragen: Warum erst jetzt? « ergänzte Mathilde.
»Contenance, meine Damen!« mahnte
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