Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
gesucht hatte, wurde ihr erst klar, als sie ihn jetzt vor sich sah.
Die Dame vom Empfang kam herein, lächelte dem Patienten mit den Handschellen zu und ignorierte den Rest der Anwesenden. Mit bedächtigen Bewegungen füllte sie Milch in den Behälter des Kaffeeautomaten, überprüfte den Vorrat an Bohnen, kontrollierte die Sauberkeit der Tassen. Ihr Stringtanga zeichnete sich deutlich unter ihrer weißen Hose ab. Den beiden uniformierten Herren gefror der Blick. Der Mörder registrierte den Anblick mit amüsierter Gelassenheit.
Mathilde hatte die Gegenwart der beiden Bewacher zwischenzeitlich kaum mehr wahrgenommen. Sie waren Statisten, ein äußerer Rahmen, einzig dazu da, die Präsenz des Mannes in Handschellen hervorzuheben. Der Stringtanga dagegen war ein Störfaktor erster Güte. Doch schließlich gab es an der Kaffeemaschine beim besten Willen nichts mehr zu tun, und die Angestellte mußte wieder gehen.
»Dieses Zimmer erinnert ein wenig an die Business-Lounge einer Fluggesellschaft, finden Sie nicht?« bemerkte Feller, offenbar in der Absicht, den Abgrund zu überbrücken, den die Empfangsdame hinterlassen hatte.
»Der Sekt und die Erdnüsse fehlen«, entgegnete Mathilde.
»Es ist nur für Privatpatienten.«
»Tatsächlich?« staunte sie. »Wie sich die Zeiten ändern. Früher wurde man heimlich durchgewinkt.«
Sie sollten ein Schild an der Tür anbringen, dachte sie: Private und Mörder . Sie schielte auf die Uhr: acht Uhr zwölf. Schon lange hegte sie den Verdacht, daß Ärzte ihre Patienten absichtlich warten ließen, um sie gefügig zu machen.
»Darf ich fragen, was Sie da lesen?« Sie hätte das Buch längst verschwinden lassen sollen. Zu spät! Nun hob sie es hoch, damit er den Titel lesen konnte.
» Patricia Highsmith, Die gläserne Zelle «, las er vor.
»Ich habe es geerbt.«
Es hörte sich an wie eine tölpelhafte Lüge, dabei war es die Wahrheit. Unter den zweitausend Romanen ihrer Großmutter hatten sich – neben den üblichen Klassikern und der Buchklublektüre – überraschend viele Kriminalromane befunden. Aber geradezu sensationell war eine andere Entdeckung gewesen: drei Kisten süßlicher Liebesromane. Dabei war an Merle Degen weiß Gott nichts Süßliches gewesen.
»Darf ich es mir ansehen?« drängte sich seine Stimme in ihre Gedanken.
Sie wollte aufstehen und ihm das Buch reichen.
»Augenblick.« Der linke Bewacher streckte die Hand nach dem Buch aus. Fellers Mimik bat um Vergebung für den Mann, der den Roman durchblätterte und schüttelte, bevor er ihn dem Häftling aushändigte. Feller studierte den Text auf der Rückseite und schien die ersten Sätze zu lesen. Mathilde betrachtete seine Hände. Sie waren sehnig, mit langen Fingern und hervorstehenden Knöcheln.
»Gefällt es Ihnen?« fragte er dann.
Mathilde merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Ich habe gerade erst angefangen, darin zu lesen.«
Er gab dem Beamten das Buch zurück, der es Mathilde weiterreichte. Rasch steckte sie es weg.
»Wie lange sind Sie schon im Gefängnis?«
»Acht Jahre.«
»Und wie lange noch?«
»Schwer zu sagen. Ich habe eine lebenslange Freiheitsstrafe bekommen.«
Es klang nüchtern und ermutigte Mathilde zu der Frage: »Wen haben Sie ermordet?«
Er lächelte. Selbstzufrieden wie Mephisto, fand Mathilde.
Die Tür des Wartezimmers wurde erneut geöffnet.
»Frau Degen, bitte.«
Mathilde griff nach Strohhut und Tasche und heftete sich einem Mädchen im weißen Kittel an die Fersen.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie im Hinausgehen.
»Wohl kaum, Frau Degen«, antwortete er.
Die Siedlung döste in der Mittagshitze. Das kleine Haus mit dem steilen Dach, vor dem Mathilde ihren Golf parkte, hatte als einziges noch die alten Fensterläden, von denen nun die grüne Farbe abblätterte. Die Dachrinne hing an einer Seite rostig herunter. Der Garten besaß, wie alle anderen hier, die Form eines langen Korridors. Doch während in den meisten Gärten in dieser Straße eine gewisse Akuratesse herrschte, waren die Sträucher hinter dem maroden Jägerzaun ins Kraut geschossen, und die vier Obstbäume hatten wilde Triebe gebildet. Im hüfthohen Gras verteilt standen bunte Skulpturen, die ein wenig an die Nanas vom Leineufer erinnerten. Ganz hinten, am Ende des Gartens, befand sich ihr Entstehungsort, ein hellblauer Holzschuppen mit einem großen Fenster. Das Atelier. Mathilde argwöhnte allerdings schon längere Zeit, daß es inzwischen hauptsächlich der Aufbewahrung von Gerümpel sowie
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