Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
Vom Netzwerk:
denkt, der schwer erkrankt ist, und ich sagte mir, er ist verloren, er ist verloren, er ist verloren, woher hätte ich wissen sollen, daß er verloren ist, ich lief im Zimmer herum und murmelte laut, alles ist verloren, alles ist verloren, wie hätte ich wissen sollen, daß alles verloren ist, daß jede neue Sache schlimmer als die alte ist, jedes Nichtwissen besser als das Wissen, und dann dachte ich an meine Mutter und ihr doppeltes Leid und wie ich es zweimal geschafft hatte, mich zwischen sie und ihre Liebe zu stellen, einmal vor meiner Geburt und einmal danach, denn mit einem Baby im Kinderwagen wollte er sie nicht mehr, das war klar, obwohl er nicht gewagt hatte, es zu mir zu sagen, und bis zu ihrem Lebensende würde sie mir das nicht verzeihen, und ich konnte noch nicht einmal böse auf sie sein, denn sie hatte recht, sie hatte vollkommen recht, und ich beschloß, auch sie anzurufen und mich zu entschuldigen, so wie ich mich bei dem Dekan entschuldigt hatte, und ich wählte die Nummer und sprach mit leiser Stimme, und sie schrie meinem Vater zu, Schlomo, es ist Ja’ara, und dann schrie sie ins Telefon, wie geht es euch, wie sind eure Flitterwochen, und ich flüsterte, wunderbar, wirklich wunderbar.
    Und wie ist Istanbul, fragte sie, und ich sagte, wunderbar, und sie fragte, wie ist das Hotel, sieht man wirklich auf das Goldene Horn? Macht doch Fotos, ich will es sehen, und fotografiert auch den Blick aus dem Hotel, und ich fragte, wie geht es euch, was macht ihr? Nichts Besonderes, sagte sie, alles in Ordnung, und ich fragte, wie geht es Tante Tirza? Sie hält sich gut, sagte meine Mutter, und ich flüsterte, Mama, weißt du noch, was Joav zu David gesagt hat, nach dem Tod Avschaloms, und sie antwortete schnell, ja, warum? Und ich sagte, ich habe heute geträumt, daß ich in einem großen Bett liege und du mir aus der Heiligen Schrift vorliest, davon, daß man seine Feinde liebhat und die haßt, die einen liebhaben, ich hörte sie laut atmen und meinen Vater im Hintergrund fragen, vermutlich war er beeindruckt davon, daß sie konzentriert zuhörte, was erzählen sie, sag schon, was erzählen sie, und ich sagte, sag ihm, daß ich nicht sie bin, ich bin ich, und dann fragte ich, warum hast du aufgehört, mir aus dem Tanach vorzulesen, genug, Ja’ara, du weißt, warum, wir sollten das jetzt nicht diskutieren, bei einem Ferngespräch, und ich flüsterte, sag es Papa nicht, aber das ist kein Ferngespräch, und sie erschrak, was soll das heißen, und ich sagte, ich fühlte mich dir sehr nahe, ich wollte dich um Entschuldigung bitten, daß ich dein Leben zerstört habe.
    Schade um das Geld, sagte sie schnell, und ich sagte, schade um das Leben, und sie sagte, laßt es euch gutgehen, schön, daß du angerufen hast, und ich legte auf, und sofort danach läutete das Telefon, aber ich nahm nicht ab, ich war sicher, daß sie es war, plötzlich war ihr klargeworden, was ich gesagt hatte, und jetzt versuchte sie ängstlich und besorgt herauszufinden, wo ich war. Ich wartete zehnmal Klingeln ab, dann unterbrach ich den Anruf, und in der Stille, die nun eintrat, legte ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer und überlegte, bei wem ich mich noch entschuldigen mußte, vielleicht bei Schira, weil ich den Tod ihres Katers verursacht hatte, ich hatte ihn in seinen Tod geführt und auf diese Art ihr kleines, ohnehin leeres Leben noch leerer gemacht, was habe ich getan, wimmerte ich, ein leeres Leben leerer gemacht, einen beschämten Menschen beschämt, einen verbrannten Tempel angezündet.
    Ich holte mir eine Decke, denn es wurde kühl, wegen des Frühlingswetters hatte man die Heizung nicht angestellt, und deckte mich über den Kleidern zu, sogar die Schuhe hatte ich nicht ausgezogen, so provisorisch fühlte ich mich, und ich betrachtete den vertrauten Anblick wie ein Kranker, der weiß, daß seine Tage gezählt sind und daß alles ohne ihn weitergehen wird. Hier würde bald eine neue Familie einziehen, ein junges Paar am Beginn seines Weges, wie wir es gewesen waren, aber die Frau würde nicht wie ich von einem Fenster zum anderen rennen und sich versichern, daß wirklich kein Geruch nach frischem Brot hereindrang, und der Makler würde nicht sagen, daß es hier in der Gegend keine Bäckerei gab, höchstens ein Lebensmittelgeschäft, und sie würde ihrem Mann keinen entschuldigenden Blick zuwerfen und sagen, ich bin allergisch gegen den Geruch von frischem Brot, er deprimiert mich, und da hörte ich ein leises Klopfen an der Tür,

Weitere Kostenlose Bücher