Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
dachte traurig, nie war ich wirklich jung, immer gab es jüngere als mich, und allmählich wurde das immer schlimmer, es sah aus, als gäbe es immer mehr Leute auf der Welt, die jünger waren als ich und immer weniger, die älter waren, jedenfalls hier in diesem Café, mir wurde übel, und ich bestellte Tee mit Zitrone, und sie auch, und es machte mich nervös, daß sie keinen eigenen Willen hatte, und ich dachte, wie hat sie doch an Größe verloren ohne ein sicheres Zuhause und einen ergebenen Ehemann, und wie verloren das Baby doch außerhalb seines Bettchens aussah, genau wie Fotos, die ihren Glanz verlieren, wenn man sie aus dem Rahmen nimmt, und auch mir ging es so, mit meinem armseligen Koffer, der plötzlich alt geworden war, ich mußte nach Hause und mich in den Rahmen meines Lebens zurückstecken.
Der Kleine fing an zu weinen, und ich versuchte, ihn zum Lachen zu bringen, ich nahm seine Hand, und mir fiel eine Geschichte ein, die meine Mutter meinem kleinen Bruder erzählt hatte, er hatte natürlich nichts verstanden, wurde aber immer sofort ruhig, deshalb fing ich nun an, dem Kleinen die Geschichte zu erzählen, von der ich gar nicht gewußt hatte, daß ich mich noch an sie erinnerte, von dem kleinen Avschalom und seiner großen schwarzen Katze, die Arie hieß, Löwe, und alle fragten, wieso heißt eine Katze Löwe, das ist, als würde man eine Schlange Maus nennen oder einen Hund Fuchs, aber Avschalom wollte es nicht verraten. Er wußte, daß Löwe der König aller Katzen war und deshalb einen königlichen Namen verdient hatte, aber ihm war klar, daß alle ihn auslachen würden, wenn er das sagte. Beweise doch, daß er der König der Katzen ist, würden sie sagen, und es ließ sich nicht beweisen, nur fühlen. Er fühlte, daß Löwe weniger seine Katze war als er der Junge von Löwe, und Avschalom gefiel es sehr gut, der Sohn einer Katze zu sein.
Der Kleine lächelte mich an, kaum zu glauben, wie diese Geschichte funktionierte, und strampelte mit den Beinchen, und ich sah, daß ein Bein länger war als das andere, und sagte, hat er nicht ein Problem mit den Beinen, und sie sagte, doch, hat er, ich war gerade mit ihm beim Orthopäden. Was hat der Orthopäde denn gesagt, fragte ich, und sie sagte, es wird in Ordnung kommen, doch es fiel mir schwer, ihr zu glauben, denn wie konnte so etwas in Ordnung kommen, wie konnte überhaupt etwas in Ordnung kommen, und ich sagte, ich glaube, dieser Orthopäde verstellt sich, und sie sagte, du hörst dich wirklich an wie mein Mann, und mir wurde schlecht, als ich an den kleinen Mann dachte, der eine religiöse Pflicht erfüllte und dessen Sohn inzwischen verschwunden war.
Was hast du vor, fragte ich, und sie spürte offenbar meinen Groll, denn sie sagte, mach dir keine Sorgen um mich, wenn ich mich ein bißchen beruhigt habe, gehe ich nach Hause zurück, auch er wird sich beruhigen, und bis zum nächsten Mal wird Frieden herrschen, und ich atmete erleichtert auf und konnte wieder Zuneigung zu ihr spüren und fragte, und kann man nichts daran ändern? Und sie sagte, nein, ich hätte ihn nicht verlassen dürfen, das hat alles kaputtgemacht. Oder du hättest nicht zu ihm zurückgehen dürfen, nachdem du ihn schon verlassen hattest, sagte ich, warum hast du das eigentlich getan? Und sie sagte, das habe ich schon vergessen, und sie vergrub ihr Gesicht in der Schulter ihres Kleinen, genau wie meine Mutter ihr Gesicht immer in Avschaloms Schulter vergraben hatte, und ich schaute aus dem Fenster, so abstoßend war mir der Gedanke, um nicht zu sagen grausam, daß eine derart kleine Schulter ihre Fehler ungeschehen machen sollte.
Auf einmal sah ich draußen ihren Mann herumirren wie einen Käfer, und mir fiel ein, an wen er mich erinnert hatte, an meinen kleinen Onkel Alex, der ein spätes Liebesglück erlebt hatte, und ich wollte bei dem unabänderlich stattfindenden Zusammentreffen der beiden nicht dabeisein und sagte, er ist im Anmarsch, und als er näher kam, sah ich, daß er eine Kipa auf dem Kopf trug, vermutlich hatte er eine Weile gebetet, bis er kapierte, was geschehen war, eine weiße Kipa, die strahlte wie eine kleine Sonne, und sie nahm den Kleinen fester in die Arme, aber in ihren Augen lag Stolz darauf, daß sie gesucht wurde, im Gegensatz zu mir, die von niemandem gesucht wurde, und ich stand auf und ging durch die zweite Tür hinaus, gerade als er das Café betrat und hoffnungsvoll und wütend herumschaute, und die Kipa auf seinem Kopf strahlte.
Rasch
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