Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
das ist eine nicht ausleihbare Ausgabe, Sie dürfen es nicht mitnehmen, und ich sagte, ich nehme es nicht mit, ich lese es hier. In einer Viertelstunde machen wir zu, warnte sie mich, und ich sagte, in Ordnung, eine Viertelstunde reicht, und mit dem Buch in der Hand setzte ich mich an den Seitentisch und blätterte mit zitternden Fingern, ohne zu wissen, was ich eigentlich suchte, aber wenn ich es fand, würde ich es wissen.
Alle um mich herum begannen bereits zusammenzupacken, ich sah von weitem Neta, die ihre Insektenlocken schüttelte und einen Stapel Papiere in ihre große Tasche packte, und nur ich hielt noch das Buch wie Mutter ihr Kind, prüfte seine vollendeten Glieder, drehte es um und um, und ich wußte, daß keine grausame Vorschrift uns trennen würde, und als der Lautsprecher alle aufforderte, die Bibliothek zu verlassen, ging ich in die entfernteste Ecke und legte mich zwischen den Regalen auf den harten Teppich und lauschte den weichen Tritten, die von ihm aufstiegen, und ich hörte, wie die Chefbibliothekarin ihre Leute zur Eile trieb, ich muß heute zu einer Hochzeit, sagte sie, ich muß dringend zumachen, und einige Minuten später gingen die Lichter aus, nur das blasse Notlicht war noch an, und ich wußte, daß ich bis zum nächsten Morgen hier eingeschlossen war, ohne Essen, ohne Trinken und ohne jeden Menschen, nur ich und mein Buch.
Zum ersten Mal seit alles angefangen hatte, atmete ich erleichtert auf, ich kroch zu dem blassen Licht und setzte mich darunter, nur das Rascheln der Blätter war in der Stille der großen Säle zu hören, und ich suchte weiter, bis ich die Geschichte vor mir sah und sofort wußte, daß ich gefunden hatte, was ich brauchte, die Geschichte von der Tochter des Priesters, die sich kurz vor der Tempelzerstörung taufen ließ, und ihr Vater saß Schiwa für sie, und am dritten Tag kam sie, stellte sich vor ihn hin und sagte, mein Vater, ich tat es nur, um dein Leben zu retten, aber er weigerte sich, sich von seinem Trauerplatz zu erheben, und aus seinen Augen fielen Tränen, bis sie starb, und da stand er auf, wechselte seine Kleider und bat um ein warmes Essen, und ich war sicher, daß ich diese Geschichte schon einmal gehört hatte, vor vielen Jahren hatte meine Mutter sie mir einmal abends vorgelesen, bei einem Stromausfall, als wir zu dritt um eine Kerze saßen, und mein Vater sagte, was erzählst du ihr da, siehst du nicht, daß sie das traurig macht?
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Mann und Frau
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FÜR MEINE ELTERN,
RIVKA UND MORDECHAI SHALEV
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1
Im ersten Augenblick des Tages, noch bevor ich weiß, ob es kalt oder warm ist, gut oder schlecht, sehe ich die Arava vor mir, die Wüste zwischen dem Toten Meer und Eilat, mit ihren blassen Staubsträuchern, krumm wie verlassene Zelte. Nicht daß ich in der letzten Zeit dort gewesen wäre, aber er war es, erst gestern abend ist er von dort zurückgekommen, und jetzt macht er ein schmales, sandfarbenes Auge auf und sagt, sogar im Schlafsack in der Arava habe ich besser geschlafen als hier, mit dir.
Sein Atem riecht wie ein alter Schuh, und ich drehe den Kopf zur anderen Seite, zu dem platten Gesicht des Weckers, der gerade anfängt zu rasseln, und er faucht, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst den Wecker in Nogas Zimmer stellen, und ich richte mich mit einem Ruck auf, Sonnenflecken tanzen mir vor den Augen, wieso denn, Udi, sie ist doch noch ein Kind, wir müssen sie wecken, nicht sie uns. Wieso bist du dir immer so sicher, daß du weißt, wie etwas gemacht werden soll, sagt er gereizt, wann verstehst du endlich, daß keiner immer alles wissen kann, und da ist auch schon ihre Stimme zu hören, zögernd, sie springt über die Hefte, die auf dem Teppich liegen, über die Bücherstapel, Papa?
Er beugt sich über mich, bringt wild den Wecker zum Schweigen, und ich flüstere zu seiner Schulter, sie ruft dich, Udi, steh auf, sie hat dich fast eine Woche lang nicht gesehen. In diesem Haus kann man noch nicht mal richtig ausschlafen, er reibt sich widerwillig die Augen, eine Zehnjährige, die man verhätschelt wie ein Baby, gut, daß du sie nicht noch wickelst, und schon taucht ihr Gesicht in unserer Tür auf, den Hals schräg gelegt, den Körper noch verborgen hinter der Wand. Ich habe keine Ahnung, was sie von unserem Gespräch mitbekommen hat, ihre hungrigen Augen verschlingen die Bewegung unserer Lippen und verdauen nichts, und jetzt wendet sie sich an ihn, von vornherein gequält, Papa, wir haben dich vermißt, und er schickt ihr ein
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