Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
grenzenlos. Pfeif auf ihn, hat Annat immer gesagt, pfeif auf ihn, er hört nicht, was du zu ihm sagst, er hört nur sich selbst, er stellt sich gegen dich, aber ich blieb stur, warum nicht, schließlich liebt er mich. Gerade weil er dich liebt, erklärte sie mir wie eine ungeduldige Lehrerin, und ich flehte sie an, als hinge alles davon ab, aber warum soll es unmöglich sein, sich einfach zu lieben, Freunde zu sein, warum ist das so schwer, und sie sagte entschieden, so ist die Realität, Na’ama, und nun habe ich Lust, zum Telefon zu gehen und ihr alles zu erzählen, wie ich es früher immer getan habe, er hat gesagt und ich habe gesagt, er hat mich gekränkt und ich war gekränkt, aber sofort fällt mir ein, daß er nur den Mund bewegen kann, er hat keine Macht über mich, er kann nicht aufstehen und weggehen, er ist vollkommen abhängig von mir. Seine Worte sind verloren ohne meine Ohren, sie sind lächerlich und bedeutungslos, sie werden sich vergeblich bemühen, zu mir zu gelangen, ich verlasse das Zimmer, gehe zum Telefon, um bei meiner Arbeit anzurufen, aber da sehe ich den Kühlschrank vor mir, auf der Tür hängt unter einem bunten Magneten, den Noga mir mal zum Muttertag geschenkt hat, ein Zettel mit der Nummer vom Roten Davidsstern, ich starre verblüfft die Nummer an, seit wann hängt sie hier, wer hat gewußt, daß wir sie jetzt brauchen?
So selbstverständlich, als handelte es sich um ein Taxi, bestelle ich einen Krankenwagen und kehre mit energischen, fast provozierenden Schritten ins Schlafzimmer zurück. Vor seinen zusammengekniffenen Augen bleibe ich stehen, sogar wenn sie offen sind, sehen sie geschlossen aus, und teile ihm in sachlichem Ton mit, du mußt etwas anziehen, Udi, du wirst bald abgeholt, und er zuckt zurück, dreht sein Gesicht von mir weg, sein Blick bleibt am Kleiderschrank hängen, an den geschlossenen Fensterläden, am Bild mit dem alten Haus, was ist das dort über dem Dach, Wolken oder der Schatten von Wolken. Ein dumpfes Hupen ist zu hören, ich nehme ein weißes T-Shirt und Turnhosen heraus, Sachen, die leicht anzuziehen sind, zerre ihm das Hemd über den Kopf, sein Hals ist weicher geworden, überhaupt ist es, als würde die Aussicht, das Haus zu verlassen, seinen Zustand verbessern, auch seine Arme bewegen sich, nur die Beine sind hart und bewegungslos, ich zerre die Hose nach oben, unter den Hintern, und siehe da, er ist angezogen und sieht aus, als würde er gleich für einen Dauerlauf das Haus verlassen. So war er manchmal abends zu mir gekommen, er sagte zu seinen Eltern, er wolle laufen, und kam zu mir, und meine Mutter musterte ihn verächtlich, als wäre er schlechter als ihre Kavaliere, sie bot ihm ein Glas Milch an, setzte sich steif vor den Fernseher und wartete auf alte Filme mit einer Hauptdarstellerin, die ihr verblüffend ähnlich sah. Ich war überzeugt, daß sie wirklich die Schauspielerin war, die gleichen hohen Wangenknochen, die gleichen klaren Lippen, die gleiche glatte, bräunliche Haut, ich war sicher, daß sie sich nachts, wenn ich allein zurückblieb, heimlich filmen ließ, diese Filme waren schließlich schwarzweiß, weil sie nur nachts aufgenommen wurden, und deshalb stand sie morgens nicht für uns auf, und ich mußte meinen kleinen Bruder wecken und anziehen und uns Brote schmieren. Erst Jahre später erfuhr ich, daß sie die Nächte in Bars verbracht hatte, wo sie mit ihren Freunden saß und trank, und auf dem Heimweg ließ sie sich manchmal an einem alten Haus mit Ziegeldach absetzen, sie weckte meinen Vater und weinte in seinen Armen, und sie versprach ihm, daß sie am nächsten Morgen die Kinder nehmen und zu ihm zurückkehren würde, und er hörte ihr traurig zu und sagte, ja, Ella, ich glaube dir, daß es das ist, was du jetzt willst, aber morgen früh wirst du etwas ganz anderes wollen. Manchmal weckte sie auch mich, wenn sie nach Hause kam, und flüsterte mir ins Ohr, wenn ich ein braves Mädchen wäre, würden wir vielleicht zu Papa zurückkehren und bei ihm wohnen, und ich stand dann früh auf, ging einkaufen, spülte das Geschirr und räumte die Küche auf, bis ich verstand, daß ich die einzige war, die diesen alkoholgetränkten nächtlichen Versprechungen glaubte.
Es wird an die Tür geklopft, laut und ungeduldig, wie die Polizei an die Tür einer Wohnung klopft, in der sich ein Verbrecher versteckt. Wo ist der Kranke, fragen zwei starke, weißgekleidete Kerle, und ich winde mich unbehaglich in meinem neuen, lächerlichen Hosenanzug,
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