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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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wird aufgeschlagen, vor meinen Augen wird mein Schicksal geschrieben, in einer Geheimschrift, die ich nicht lesen kann. Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr, flehe ich den Arzt an, sie kommt wieder in Ordnung, stimmt’s?, und er betrachtet sie zweifelnd, ihre Augen schließen sich wieder, und ich bettle, wach auf, meine Tochter. Ich weiß noch nicht, daß sie uns immer wieder in die Irre führen wird, Tag um Tag, schau, sie läuft schon, schau, sie ißt, wir haben es geschafft, uns ist ein Wunder passiert, es sieht aus, als würde sie sich erholen, wir sitzen mit ihr auf dem Rasen des Krankenhauses, sie will ein Eis, und ich renne glücklich zur Cafeteria, ich stoße unterwegs gegen Leute und bleibe nicht stehen, um mich zu entschuldigen, meine Tochter will ein Eis, und ich werde alles tun, um es ihr zu geben und zuzuschauen, wie sie es schleckt. Wir sitzen auf dem schäbigen Rasen und verfolgen gespannt die Bewegungen ihres Mundes, konzentrieren uns auf das Eis, das ihr in den Händen schmilzt, als würde, wenn sie es vertilgt, auch die Gefahr verschwinden, wir wagen kaum zu atmen vor lauter Hoffnung, und da ist sie fertig mit dem Eis, sie ist gesund, vielleicht holen wir sie morgen heim. Am Eingang zur Station treffen wir den Arzt, sie ist schon in Ordnung, verkünde ich ihm, sie hat ein Eis gegessen, und da kommt auch schon die wohlbekannte Welle Erbrochenes aus ihrem Mund, Vanille schwappt auf den Fußboden, und erneut verliert sie das Bewußtsein, und wir sind wieder armselige, gedemütigte, den Schicksalsschlägen ausgesetzte Geschöpfe. Unsere Gesichter senken sich ergeben, unsere Mundwinkel ziehen sich nach unten, und jeder Satz von ihr weckt Weinen, Mama, ich werde wachsen, sagt sie plötzlich, ich werde größer sein als du, und ich fange schon an zu schluchzen, natürlich wirst du wachsen, und in meinem Inneren kocht die Angst, vielleicht wird sie nicht wachsen, wer weiß schon, was in ihrem Gehirn passiert ist, das wieder und wieder in dem kleinen Schädel erschüttert wurde, eine Plastikwanne hat ihr Leben gerettet, eine Plastikwanne voll Wasser, die das Hausmädchen der Nachbarn draußen vergessen hatte, und diese drohende Gefahr hing weiter über uns, auch als die eigentliche Gefahr schon vorbei war, auch als wir endlich nach Hause zurückgekehrt waren. Alles Ungewohnte erschreckte mich, und ich war so in Noga versunken, daß ich nicht merkte, wie ich Udi in einem unbemerkten Augenblick auf dem Weg zwischen dem Unglück des Falls und dem Wunder der Genesung verlor, und was noch schlimmer war, sie verlor ihn auch.
    Wir sind da, sagt er, und ich schüttle mich, einen Moment lang überrascht, ihn auf der Liege zu sehen und nicht Noga, der Krankenwagen hält vor der Notaufnahme, genau wie damals, aber jetzt kommen die Ärzte nicht mit fahrbaren Pritschen und Geräten auf uns zu, um uns sofort zum Behandlungsraum zu bringen, sondern sie laufen langsam, gemessen, als besäßen unser Leben und unser Leiden keine besondere Bedeutung. Von vornherein überflüssig, warten wir darauf, daß die Tür aufgeht, Udi wirft mir einen tapferen Blick zu, seine Finger bewegen sich auf mein Knie zu, und ich beobachte gleichgültig seine Bemühungen, was versucht er da zu spielen, eine unhörbare Melodie, und erst dann verstehe ich, er will mich mit seinen schuldigen Händen berühren, er murmelt, es tut mir leid, und ich frage noch nicht mal, was er meint, das, was heute morgen war, oder das, was damals war, vor fast acht Jahren, so sehr freue ich mich über seine ungewohnte Entschuldigung, eine schnelle Freude, ohne Selbstachtung, und ich strecke die Hand aus und verflechte meine Finger mit seinen, und so, Hand in Hand, finden uns die Pfleger, vor deren strahlenden weißen Jacken sich die Türen öffnen, und sie rollen die Pritsche vor sich her, so leicht, als wäre sie leer.
    Ein summender Bienenkorb aus Krankheit und Schmerz eröffnet sich uns, während wir uns, er auf dem fahrbaren Bett und ich auf zitternden Beinen, unseren Weg durch die Menschenmenge bahnen, die sich vor den Türen zusammenscharen, als würden hier Raritäten verschenkt, wie selten ist doch die Gesundheit, sie streunt frei auf den Straßen herum, und diesen Ort hier meidet sie, und wieder schäme ich mich für meinen neuen Hosenanzug, Udi hat recht, ich beleidige den Kranken mit meiner zur Schau gestellten Gesundheit, ich provoziere mein Schicksal, provoziere ihn, seinen Körper, der von der Pritsche aufs Bett rutscht, und dort liegt er nun, ein

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