Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
die Augen, die auf mich gerichtet waren und mit unverhohlenem Interesse jede meiner Bewegung beobachteten, ich achtete auch nicht auf die Hand, die unaufhörlich etwas Sinnloses notierte. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, schaute nur sie an, doch dann kam er zu mir, mit aufgeschlagenem Heft, ich habe dich gemalt, sagte er und hielt mir mein mit Kohle gezeichnetes Gesicht hin, ich war erstaunt, das bin ich doch gar nicht, ich bin nicht so schön. Er widersprach, du bist viel schöner, die Leute sagen immer, daß ich alle Gesichter häßlicher mache, und meine Freunde sind schon nicht mehr bereit, mir Modell zu sitzen, weil ich sie so häßlich male. Aber mich hast du schöner gemacht, sagte ich und lachte, und er betrachtete aufmerksam mein Gesicht, dann die Zeichnung in dem Heft, das zwischen uns lag, und sagte entschieden, nein, du weißt gar nicht, wie schön du bist, warte nur, bis du dich in Farbe siehst, die Kohle reicht nicht für deine Farben, und plötzlich war er still und kehrte zu seinem Tisch zurück, und wieder glitt seine Hand über das Papier, während seine Augen auf mich gerichtet waren.
Der Krankenwagen hält vor einer Ampel, und da, auf der linken Seite, ist es, das alte Café, meine gestohlenen Vormittage, nicht ihn liebte ich dort, sondern mich selbst in seinen Zeichnungen, aber wo sind die runden, einladenden Tische, wo die Schälchen mit den mürben Zitronenplätzchen, aus den Öffnungen dringt das Feuer von Lötkolben, ein grelles Licht, in das man nicht schauen darf, weil einem sonst die Augen flimmern, aber ich schaue trotzdem hin, das kann nicht sein, sie reißen das Café ab, zerstören das letzte Denkmal, und ich schaue Udi erregt an, sie reißen das Café ab, sage ich und offenbare leichtsinnig meinen inneren Aufruhr, und er zeigt ein flüchtiges, verzerrtes Lächeln, geheimnisvoll, als wäre er es, der hinter dem weißen Feuer steht. Vielleicht verdient das Café es, abgerissen zu werden, denn ein paar Monate nach diesem Treffen fiel Noga vom Balkon, mit all ihren Locken, mit ihren dicken Bäckchen und ihren Grübchen, ihrem weichen Bauch und ihren kleinen Beinen, sie segelte wie eine Stoffpuppe aus Udis Händen, und ich schrie, rannte die Treppe hinunter, als gäbe es eine Chance, vor ihr anzukommen und sie aufzufangen, Stockwerk um Stockwerk, Gelübde um Gelübde, nie wieder werde ich mich verlieben, nie wieder froh sein, nie wieder das Haus verlassen, du sollst nur laufen können, Nogi, mein Schatz, du sollst sprechen, du sollst unversehrt sein, und schon waren wir in einem Krankenwagen, wie jetzt, nur damals heulte die Sirene, und das Auto hielt nicht an den Ampeln, sie war bewußtlos, eine weiße Wachspuppe, das Gesicht furchtsam angespannt unter der Sauerstoffmaske, als würde man ihr in diesem Moment eine spannende Geschichte erzählen, von der noch unklar wäre, wie sie aufhört, und auf ihrem Gesicht der bekannte Ausdruck, ein gutes Ende, Mama, bitte laß die Geschichte gut aufhören, und Udi weinte mit ausgetrockneter Kehle, es ist deinetwegen passiert, schrie er, wegen deinem Maler, nächtelang kann ich nicht schlafen, ich trinke und rauche die ganze Zeit, ich habe sie hochgehoben, und plötzlich ist sie mir von den Armen gesprungen, meine Arme sind schwach, ich kann kaum ein Buch halten, wie sollte ich da ein Kind halten. Ich sehe, wie er sich entfernt, wie er immer kleiner wird, ein winziges Häufchen Knochen bleibt von ihm übrig, vor meinen Augen tanzen Dutzende kleiner Nogas wie Sterne am Himmel, sie tanzen in Balletttrikots, Keile glitzern zwischen ihren Beinen, warum bewegen sie die Beine nicht, das sind keine Keile, mir wird schwindlig, das sind kleine Rollstühle, der Himmel ist voller Rollstühle, die auf den steilen Hängen miteinander konkurrieren wie Autos im Lunapark, aber statt des ausgelassenen, erschrockenen und provozierenden Lachens der Kinder ist schreckliches Weinen zu hören, Mama, was hast du mir angetan, und ich schreie, Noga, mein Kleines, ich verzichte auf alles, nimm meine Beine, es gibt keinen Ort mehr, zu dem ich gehen müßte, nimm mein Herz, es gibt niemanden mehr, den ich lieben könnte, nimm meine Gesundheit, ich brauche sie nicht, nimm mein Leben, und mein Weinen stößt gegen das seine, wir weinen nicht zusammen, sondern gegeneinander, als wäre das die Fortsetzung unserer unaufhörlichen Streitereien.
Da öffnet sie die Augen einen Spaltbreit, aus ihrem Mund kommt eine trübe Welle Erbrochenes, was bedeutet das, das Buch meines Lebens
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