Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
Vom Netzwerk:
sie fragt, was ist mit den Papieren, und ich schaue mich um, mit welchen Papieren? Sie müssen ihn anmelden, sagt sie und verzieht das Gesicht, als hätte sie uns dabei erwischt, daß wir uns ins Kino eingeschmuggelt haben, ich verlasse sie widerwillig und schließe mich ungeordneten Reihen an, Kopf an Kopf und Schulter an Schulter, und über allen schwebt dieses naive erste Staunen von Menschen, die sich plötzlich in einem anderen Land wiederfinden, einem häßlichen Land, und die nicht wissen, ob sie je wieder den Weg nach draußen finden werden. In ein paar Tagen werden sie sich daran gewöhnt haben, sie werden in bitterer Ergebenheit neben ihren Lieben in den verschiedenen Abteilungen sitzen, und das Erstaunen wird ihnen wie eine Erinnerung an ein verschwommenes Bild aus der Kindheit vorkommen, ohne große Bedeutung und grundlos geliebt.
    Als ich ohne ihn bin, weit weg von seinen bewegungslosen Beinen, von seinen geschlossenen Augen, jenen Augen, die mich betrachtet haben, seit ich zwölf war, weit weg von seiner Existenz, die mich mehr definiert als sich selbst, einen Moment, bevor ich an der Reihe bin und ich mich vor dem Schalter aufstelle, einen Moment bevor ich ihn anmelde und dafür die leeren Formulare bekomme, die sich bald mit besorgniserregenden Details füllen werden, trifft mich schlagartig die Erkenntnis, daß sich die Bewegungsfähigkeit von ihm entfernt hat, so wie sich die Gegenwart Gottes aus dem Tempel entfernt hat, bevor er zerstört wurde, und die Wucht der Erkenntnis macht mich klein, so daß mir alle Menschen um mich herum wie Riesen vorkommen und ich mich darüber wundere, daß mich überhaupt jemand zur Kenntnis nimmt, wie diese Angestellte mit den Sommersprossen, die ungeduldig zu mir sagt, nun, was kann ich für Sie tun? Schließlich existiere ich nicht mehr, das Leid dieses Morgens hat meine Existenz ausradiert, du beendest deine Schicht und gehst nach Hause und glaubst, du weißt, was du dort vorfindest, während bei mir alles Selbstverständliche, alles Vertraute an einem einzigen Morgen zerrissen worden ist, denn mein Udi ist krank, mein Udi ist gelähmt, er wird nicht mehr von mir weggehen und nicht mehr zu mir zurückkehren.
    Auf dem Rückweg zu ihm, die Hände voller Papiere und Unterlagen, auf denen alle Details richtig sind und trotzdem kränkend, auf dem Rückweg zu Neuman, Ehud, Sohn Israels, ängstlich wie eine Mutter, die ihr Kind einer unbekannten Pflegerin überlassen hat, habe ich plötzlich vergessen, wo er genau liegt, ich schiebe einen Vorhang nach dem anderen weg, dringe in die Privatsphäre von Kranken ein, die auf ihre Einweisung in eine Station warten, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, ihn nie mehr identifizieren zu können, alle hier tragen die grünliche Farbe der Vorhänge, sind bis zum Hals mit den schäbigen Decken zugedeckt, und nur bei meinem Kranken ist der Vorhang offen, und er liegt entblößt da wie ein Junge, der keine Scham kennt, mißt gehorsam seine Temperatur und nickt mir freudlos zu, ein durchsichtiger Schlauch führt bereits von einer Infusion zu seinem Arm, und es ist, als wäre ich stundenlang weggewesen, so groß ist schon die Veränderung, die ihm widerfahren ist. Jetzt gehört er hierher, trotz seines jungenhaften Aussehens, trotz seiner Sportkleidung, und ich betrachte feindselig die Schwester, die sich gelassen zwischen den Kranken bewegt, als habe sie mich im Kampf um sein Herz besiegt. Los, nimm schon das Thermometer heraus, fauche ich, es ist genügend Zeit vergangen, aber er schüttelt den Kopf, erst wenn es die Schwester sagt, zischt er, und ich werde gereizt, ich glaube das nicht, Udi, du brauchst dafür eine Erlaubnis, und er sagt, ja, sie hat gesagt, ich soll es im Mund lassen, und er zuckt hilflos mit den Schultern. Er ist immer so aufsässig gewesen, nie hat er jemandem gehorcht, weder den Lehrern in der Schule noch seinen Vorgesetzten in der Armee, und immer hat man ihm am Schluß verziehen, wie ist es möglich, sich an einem einzigen Morgen so zu verändern, als habe das Versagen seiner Beine seine innere Struktur umgewandelt.
    Ich sehe, wie sein Blick hypnotisiert den Bewegungen der Schwester folgt, Bewegungen, die grob sind vor lauter Effektivität, das Thermometer in seinem Mund befreit ihn von der Pflicht, mit mir zu reden, noch nie habe ich ihn eine Frau auf diese Art anschauen gesehen, andere Frauen interessierten ihn nicht, jedenfalls behauptete er das, und ich glaubte ihm, immer hat er mir gegenüber seine

Weitere Kostenlose Bücher