Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
hätten Sie etwa nicht so heftig reagiert, hätten Sie etwa ein Fest gefeiert, wenn bei Ihnen zu Hause so etwas passiert wäre?
Ich spreche nicht davon, ein Fest zu feiern, sagt sie, aber man kann einfach weiterleben, man muß nicht zusammenbrechen, man kann das akzeptieren, was geschieht, ohne Zorn, ohne Schuldgefühle, man kann daran glauben, daß alles Schwere dazu bestimmt ist, uns stärker zu machen, und ich koche vor Zorn, das ist unmenschlich, was Sie da vorschlagen, wie kann man ohne Zorn reagieren, wenn einem das Leben zusammenbricht, und sie sagt, die Tibetaner glauben, daß derjenige, der dich verletzt, dein größter Lehrmeister ist, dabei betrachtet sie ihr Baby, als gälten ihre Worte mehr dem Kind als mir, und dann fügt sie mit leidenschaftlicher Stimme hinzu, manchmal hängen wir an unseren schlechten Gewohnheiten, und wenn sich eine Veränderung anbahnt, zittern wir vor Angst, ohne zu merken, daß dies unsere einzige Chance ist, und ich widerspreche, das sind leere Phrasen, es gibt Veränderungen zum Guten und zum Schlechten, Sie können mich nicht davon überzeugen, daß jede schlechte Sache eigentlich gut ist, alles hängt von den Umständen ab.
Aber was heißt das denn, Umstände, Na’ama, sagt sie erregt, als habe sie genau auf diese Frage gewartet, wie weit müssen wir uns von den Umständen abhängig machen, wie ein Sklave von seinem Herrn, heute sind Sie glücklich, weil einstweilen alles in Ordnung ist, morgen werden Sie unglücklich sein, weil irgend etwas schiefgegangen ist, und das Glück wird zu einer fernen Erinnerung. Aber was ist unser Grundcharakter, unsere eigentliche Natur, wie können wir leben, wenn sich alles von einem Moment auf den anderen ändert wie das Licht? Was schlagen Sie also vor, frage ich, und sie antwortet schnell, ich schlage vor, daß Sie zu Ihrem inneren Kern vordringen, der unveränderlich ist, der nicht von den Umständen abhängt, und von dort Ihre Kraft nehmen, Sie können nicht immer die Sklavin einer trügerischen Realität sein, Sie müssen sich auf Ihre innere Stärke stützen. Und ich frage, was soll das sein, was in mir ist, ich glaube nicht, daß ich so etwas überhaupt habe, und sie öffnet weit die Augen, natürlich haben Sie es, das ist Ihre wahre Existenz, Ihre eigentliche Natur, die Erleuchtung, die Vollendung, und ich sage erstaunt, wirklich, und wie gelangt man dahin?
Das erkläre ich Ihnen das nächste Mal, sagt sie lächelnd, und ich freue mich, zu hören, daß sie noch einmal kommen wird, daß sie uns noch nicht allein läßt mit all ihren erstaunlichen Botschaften, daß sie mir etwas anbietet, auf das ich warten kann, und ich erkundige mich bereitwillig, was ich ihr zu bezahlen habe, und sie sagt, vorläufig nichts, darüber sprechen wir am Ende, und ich frage mich, was dieses Ende sein wird, es scheint, als habe sie vor, tief in unser Leben einzudringen. Am Ende der Krankheit, frage ich unverhohlen hoffnungsvoll, und sie korrigiert mich, am Ende des Prozesses, als handle es sich hier um eine wichtige verbale Unterscheidung, und dann geht sie wieder zurück in sein Zimmer. Diesmal verzichtet sie von vornherein auf meine Babysitterdienste, sie trägt ihre Tochter auf dem Arm, und ein paar Minuten später kommt sie mit einem erleichterten Seufzer heraus, wie eine Hebamme nach einer schweren Geburt, die gut verlaufen ist. Ich komme morgen bei Sonnenaufgang wieder, verkündet sie mir, es gibt ein paar Untersuchungen, die ich mit euch allen machen möchte, und wieder staune ich, was soll das heißen, bei Sonnenaufgang, wirklich bei Sonnenaufgang oder einfach nur früh am Morgen? Wirklich bei Sonnenaufgang, sagt sie, zu diesem Zeitpunkt sind die Energien im Zentrum des Körpers am stärksten. Um welche Uhrzeit wird das sein, frage ich, und sie zuckt ernst mit den Schultern, keine Ahnung, und sie hält mir ihr dünnes Handgelenk hin, uhrlos, als sei die Uhr noch nicht erfunden worden, ich spüre es, wenn die Sonne aufwacht, sagt sie, und ich höre ihr beschämt zu, plötzlich bin ich zur Repräsentantin eines gefühllosen Fortschritts geworden, erschrocken und hilflos gegenüber der Natur.
Ehud wird Sie wecken, er weiß, wann die Sonne aufgeht, sagt sie, sie sind sich also schon nähergekommen, haben ein konspiratives Verhältnis. Sie legt die Kleine vorsichtig in den Korb, und ich kann mich nicht beherrschen und frage, wie alt ist sie? Genau dreißig Tage, antwortet sie stolz, und ich staune, daß sie die Zeit in Tagen angibt, genau wie die
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