Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
aufhören, mir Sorgen zu machen, wie kann ich mein Mitleid überwinden, wenn man aufhört, sich Sorgen zu machen, hört man auf zu lieben, nicht wahr? Das ist es doch, was Liebe bedeutet.
Liebe braucht sie, fährt meine Mutter fort, sie braucht weder Schutz noch Mitleid, niemand muß sich vor ihr fürchten, kannst du sie nicht einfach liebhaben? Ich krümme mich, ihre Augen in dem ernsten, harten Gesicht sehen jung aus und ärgern mich mit ihrer erstaunlichen Lebhaftigkeit, ich blicke zu der Wand hinter ihrem Rücken, dort hängt ein altes Bild in einem verstaubten Rahmen, Jotam und ich erstarrt in einer ungeschickten Umarmung, ich bücke mich zu ihm und halte ihm einen Keks hin, er lächelt, und hinter uns ist unser altes Haus mit dem roten Ziegeldach zu sehen, und ich sage, vielleicht kann ich wirklich nicht lieben, Liebe ist ein Luxus, nur wenn alles andere in Ordnung ist, kann man lieben. Traurig betrachte ich meinen kleinen Bruder, sein Gesicht ist ausdrucksvoll wie Nogas, es kommt auf mich zu, ihn habe ich wirklich geliebt, wie einen Teddybär habe ich ihn geliebt, und er hat gebrummt in meinen Armen, ich war der Wolf und er der Bär, und wir tobten im großen Bett unserer Mutter herum, bis es zum Bett unseres Vaters wurde und unter seinem Gewicht immer tiefer sank. Jotam verschwand fast in seinem Knochengerüst, und niemand sah es, nur ich versuchte, ihn zu retten, und vielleicht verwandelte sich damals die Liebe in einen Schreckensschrei, fast bin ich schon soweit, es ihr vorzuwerfen, glaubst du etwa, daß du lieben kannst, aber es ist sinnlos, so hat Udi mir immer den Ball zurückgeworfen, als würde er brennen, ohne einen Moment lang nachzudenken, was er damit anrichtet, und plötzlich ergreift mich Staunen, als ich an ihn denke, früher war Udi hier, aggressiv, nervös, mit schmalen, unruhigen Augen in dem dreieckigen Gesicht, und jetzt ist er nicht hier, und einen Moment lang ist es mir egal, wo er sich jetzt aufhält. In mir hat sich eine seltsame Ruhe ausgebreitet, denn ich habe hier eine Tochter, und ich muß lernen, sie zu lieben, weit weg von seinem spitzen Schatten, weit weg von seiner Eifersucht und seiner schlechten Laune, und wieder blicke ich zu dem Bild hinüber, wir haben nicht gewußt, was sich unter dem roten Dach verbarg, aber was ist Schlimmes daran, wenn man die Augen zumacht, warum muß man Kindern die Wahrheit ins Gesicht schleudern und verlangen, daß sie damit zurechtkommen.
Die Jahre der Lüge waren um vieles besser als die Jahre der Wahrheit, sage ich zu meiner Mutter, du siehst doch, wie gut es uns ging, war es wirklich unmöglich, noch ein paar Jahre auszuhalten? Sie senkt den Kopf, noch immer trägt sie ihre dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, so fest, daß ihre Gesichtshaut nach hinten gezogen wird, glaubst du, ich hätte es nicht versucht, sagt sie, nichts ist leichter, als zu lügen, aber das stimmt nicht, auch ein Kind kann nicht ewig in einer vorgegaukelten Wirklichkeit leben. Ich widerspreche, Jotam hätte es gekonnt, schau dir seine Existenz doch an, er hält es in der Realität nicht aus, er zieht durch die Welt wie ein Geisterschiff, vielleicht ist Noga ja wie er, vielleicht schafft sie es auch nicht, und sie sagt, Noga wird es schaffen, sie hat eine gute Mutter, besser als die, die du hattest, und mir läuft ein Schauer über den Rücken, ihr trauriges Kompliment ist mir nicht angenehm, komm, schlafen wir, sage ich, und sie zieht mich an sich und streichelt mir langsam über das Gesicht, als wäre sie blind, ihre Finger verströmen den Duft von Parfüm und Zigaretten, und als ich mich auf das Sofa lege, denke ich, daß er mein Gesicht nie mit diesem Ernst gestreichelt hat, mit dieser vollkommenen Aufmerksamkeit, und vielleicht hätte ich auch darauf nicht zu verzichten brauchen.
Und das ist nur der Anfang einer heißen, trüben Welle, die aus den Tiefen aufsteigt und mich überschwemmt, schwer vor Groll laufe ich in der Wohnung umher, spüre, wie die Wut in mir klopft und herauswill, wie habe ich nur zulassen können, daß er mein Leben besetzt, nichts davon blieb mir allein, wie konnte ich mein Studium aufgeben, nur wegen seiner blöden Eifersucht, du hast doch schon einen Abschluß, hatte er gesagt, warum mußt du dich dann in der Universität herumtreiben, als hättest du kein Baby zu Hause, wie konnte ich auf meine Freundinnen verzichten, er war überzeugt, sie würden mich gegen ihn aufhetzen, und wenn ich mit ihnen verabredet war, war ich
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