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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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lauft ihr alle auf der Überholspur, und nur ich war so stur, alles empfinden zu wollen, mit meinen Plattfüßen den nackten Königsweg zu nehmen, keine Nuance zu mißachten, mich an der infizierten Wurzel des Gefühls aufzureiben, und ich frage mich, was Udi dazu sagen würde, zu meiner neuen, verschlafenen Existenz, zu dieser stillen Rebellion im Reich des Gefühls, ich denke an alles, was ich ihm erzählen könnte, wenn er jetzt bei mir wäre, von dem Baby, das durch meine Schuld weggegeben wurde, von dem Tor zum Heim, das hinter mir zugefallen ist, aber natürlich hätte er gar nicht zugehört, denn zwischen uns mündete alles in einen Streit, jeder Fehler von mir bewies, daß er besser war als ich, jede Leistung wurde zum Instrument des Kampfs, nie haben wir uns gegenseitig als selbständige Personen gesehen, mit dem Recht auf ein eigenständiges Leben, alles wurde sofort zurechtgebogen, um in den engen Kreis unserer Verbindung zu passen, wir waren so dicht beieinander, daß wir einander nicht sehen konnten, und trotzdem waren wir auch wieder weit voneinander, er mußte bis Tibet fahren, damit ich das Gefühl hatte, ihm nahe zu sein, und wenn Noga fragt, woran denkst du, Mama, sage ich, ich denke einfach vor mich hin, an nichts Besonderes.
    Manchmal fürchte ich, daß dieses Schweigen vielleicht gut ist für mich, aber nicht für sie, vielleicht sollte ich versuchen, sie zum Sprechen zu bringen, es ist seltsam, daß sie aufgehört hat, über ihn zu reden, als hätte sie nie einen Vater gehabt, aber ich kann mich nicht dazu bringen, es stimmt also, so etwas gibt es, ich kann einfach nicht, so viele Jahre dachte ich, daß ich in der Lage wäre, alles zu tun, was ich tun wollte. Doch eines Nachts finde ich sie wach im Bett sitzend, ein zerknittertes Stück Papier auf den Knien ausgebreitet. Was ist das, Nogi, frage ich, und sie sagt, der Brief, den Papa mir dagelassen hat, als er wegging, einmal hätte ich fast das Haus angesteckt, um diesen Brief zu finden, und jetzt ist er mir nichts wert, überflüssig, ich habe gar nicht das Bedürfnis, ihn zu lesen. Glaubst du, daß es Papa gutgeht, fragt sie, und ich beeile mich zu sagen, klar, warum nicht, und sie sagt, es ist seltsam, daß er nicht anruft, vielleicht ist ihm etwas passiert, und ich lege meine Hand auf ihren Kopf mit den wirren Haaren, Nogi, du willst dir lieber Sorgen um ihn machen, statt daß du böse auf ihn bist, du darfst aber böse auf ihn sein. Vielleicht ist ihm wirklich etwas passiert, woher willst du wissen, daß es nicht so ist, beharrt sie und weckt eine dumpfe Angst in mir, es fällt mir schwer einzuschlafen, ich strecke die Hand nach der Bibel aus, die auf seiner Seite liegt, vielleicht hat er ja auch mir einen Brief hinterlassen, vielleicht verbirgt er sich zwischen den Zeilen, und ich blättere im Buch herum, wo sind die tröstlichen Prophezeiungen, die damals neben mir standen wie ein Chor guter Freundinnen, warum verstecken sie sich vor mir, und plötzlich stürzt sich aus dem Buch ein Chor aus bitterbösen Wörtern auf mich, weckt in mir eine Erinnerung an eine unverzeihliche Kränkung, was sagte er dort, im blühenden Garten des Hotels, in einem der seltenen Momente unseres Glücks, falls man dieses zerbrechliche Etwas überhaupt Glück nennen konnte. Ich darf nicht mit dir hinauf ins Hotel gehen, sagte er, ich darf hier nicht essen und nicht trinken und nicht den Weg zurückgehen, den ich gekommen bin, ich muß hier fort, bevor mich jemand zum Scheitern bringt, wie es jenem Mann Gottes widerfahren ist, und plötzlich steht mir diese Geschichte, die ihn so bedroht hat, in ihrer ganzen Schrecklichkeit vor Augen, die Geschichte vom Mann Gottes, der von Juda nach Bethel kam und den Brand des Altars prophezeite, das Opfer des sündigen Bethel, und Gott gebot ihm, kein Brot zu essen und kein Wasser zu trinken und nicht den Weg zurückzugehen, den er gekommen war, aber ein alter Prophet aus Bethel brachte ihn absichtlich zum Scheitern, ich bin ein Prophet wie du, belog er ihn, und ein Engel Gottes hat mit mir geredet und gesagt, ich soll dich zu meinem Haus führen und dir zu essen und zu trinken geben. Der Mann Gottes, der schon hungrig und durstig war, ließ sich verführen, ihm zu glauben, und während sie noch am Tisch saßen und aßen und tranken, kam das Wort des Herrn zum Propheten, dein Leichnam wird nicht in deiner Väter Grab liegen, weil du dem Mund des Herrn ungehorsam gewesen bist, und als er seines Weges zog, fand ihn ein Löwe

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