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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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Flucht zu schlagen.
    Mit Vergnügen beobachte ich ihre Bewegungen, sie ist verwirrt, läßt die Gabel fallen, wirft mir einen schuldbewußten Blick zu, und gleich danach hinterläßt ein Stück Käse einen Fleck auf ihrem Hemd, an ihren Wangen bleiben Toastkrumen hängen, wie lächerlich und wie süß ist sie beim Essen, ihre unschuldige Sicherheit, daß ihr die Nahrung zusteht, daß sie immer etwas zu essen haben wird, sie kaut kräftig, ist ganz dem Essen hingegeben. Ich picke die Reste auf, und danach gehen wir Arm in Arm nach Hause, und unterwegs sagt sie, ich habe bald Geburtstag, und ich sage, stimmt, was willst du machen? Und sie sagt, nichts Besonderes, ich werde die ganze Klasse einladen, wir machen die Spiele, die wir in der Schule gelernt haben, und ich lasse mich von ihrer Begeisterung anstecken, vermutlich geht es ihr inzwischen besser in der Klasse, ich möchte sie nicht danach fragen, um ihr nicht zu zeigen, daß ich mir Sorgen gemacht habe.
    Kein Problem, Nogi, sage ich, wir haben noch viel Zeit, aber die Zeit vergeht schnell, manchmal denke ich mit Erstaunen daran, was ich früher an einem Tag alles geschafft habe, denn jetzt gleiten die Tage mit großer Geschwindigkeit davon, sie rutschen mir aus den Händen wie glitschige Aale, lautlos und nicht festzuhalten. Wir wachen spät auf, gewöhnlich bin ich die erste, dann hole ich frische Brötchen und Tomaten aus dem Lebensmittelgeschäft und bereite uns das Frühstück, Noga schaut fern, und manchmal setze ich mich zu ihr und betrachte neidisch die gepflegten Köpfe auf dem Bildschirm, ihre Bekanntheit bewacht sie wie ein Schäferhund, denn jemand, dessen Existenz von so vielen Leuten beobachtet wird, kann nicht einfach verschwinden, so wie wir, ich glaube, wenn wir eines Morgens nicht aufwachen, wird niemand unser Fehlen bemerken. Höchstens vielleicht meine Mutter, die ihr leeres Leben nicht weit von uns entfernt lebt, manchmal lädt sie uns zum Abendessen ein und betrachtet uns schweigend, mit zusammengepreßten Lippen, die von einem Kronenkranz aus Falten umgeben sind, sie läßt zu, daß wir uns miteinander anfreunden, ohne uns dabei zu stören. Nachmittags gehen wir ins Schwimmbad, tauchen eine neben der anderen mit offenen Augen, Sonnengeglitzer zwischen uns und vor uns blaue Teppiche in weichen Wellen, manchmal winkt ein Kind aus ihrer Klasse Noga träge zu, ich sehe, wie sie furchtsam hingeht und versucht, sich an den Spielen der anderen zu beteiligen, aber sie kommt schon bald zu mir zurück, barfüßig, und ich verziehe die Lippen, ich lasse nicht zu, daß sie meine Ruhe stören, die Tore sind geschlossen, die Mauer um mich herum ist dicht, nicht wie früher, als sie löchrig war wie ein Sieb und jede Furcht in meine Seele eindringen konnte, um sich dort einzunisten. Jetzt bin ich beinahe undurchlässig, nur wenn ich ein Kind in einem Kinderwagen sehe, erschrecke ich, als begegnete ich dem Geist eines Toten, und atemlos betrachte ich das Kind, ob es der kleine Micha sein könnte, das adoptierte Baby, Schleier aus Schmerz ersticken mich, und ich verstecke mich hinter einer Zeitung oder einem Buch, wie geht es ihr jetzt, wie wird sie mit diesem Verlust fertig, und als ich an meinen Anteil an ihrer Katastrophe denke, tauche ich wieder unter und versuche mich mit aller Macht zu retten, zu viele Anschuldigungen prasseln auf mich herab, ich darf sie nicht vorschnell annehmen, ich muß sie genau abwägen, denn wie könnte ich sonst existieren?
    Wir sprechen eigentlich kaum miteinander, so viele Worte sind schon gesagt worden, man muß sie erst einmal sinken lassen, bevor man neue Steine ins Wasser wirft, wir begnügen uns einstweilen mit dem, was sich zwischen uns bildet, eine ruhige Schwesterlichkeit, ihre Not leuchtet mir den Weg und meine Not leuchtet ihr, und darüber hinaus existieren wir nur, wir springen nicht in die Flammen, um uns daran zu gewöhnen, sondern stehen am Rand des großen Feuers und hüten uns vor den Funken. Manchmal denke ich, daß diese leeren, dumpfen Tage die glücklichsten meines Lebens sind, denn ich fühle fast nichts, als säße ich nach der Betäubungsspritze auf einem Zahnarztstuhl, mit offenem Mund, und wüßte, daß ganze Ladungen von Schmerz in mir explodieren, ohne daß ich ihre Macht spüre, als würden sie, wenn ich sie ignoriere, aufhören zu existieren.
    So also lebt ihr alle, das ist das große Geheimnis des Lebens, das, was Sohara mir zu zeigen versucht hat, so versuchte Udi, sich zu retten, ungerührt

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