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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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in der Wüste, singen sie beflissen den Text aus dem Gebetbuch, die Lehrerin hält mir das Blatt mit dem Text hin, und ich betrachte ihn, versuche, mit einzustimmen, die Wörter kratzen in meinem Hals, sie sind ein Volk mit irrendem Herzen, und sie haben meine Wege nicht erkannt, daher habe ich in meinem Zorn geschworen, sie werden nicht zu meiner Ruhestätte kommen … Im Schatten des Gesangs finden Gespräche statt, Wörter werden zwischen den Versen gezischt, die meisten der Anwesenden scheinen sich zu kennen, sie haben schon gemeinsame Erinnerungen gesammelt, gemeinsame Feiern zum Empfang des Schabbat, duftende Wärme entsteigt den Decken, als koche dort ein geheimer Eintopf auf versteckten Herdplatten, jede Familie bringt den angenehmen Geruch ihres eigenen Heims mit, des eigenen Atems und der eigenen Gerichte, des eigenen Waschmittels und des eigenen Shampoos, den Duft von Nachgeben und Kompromiss, von Nähe und Gewohnheit, von uralten Machtkämpfen und Freundschaften, die fast unmerklich hinzugekommen sind, und all diese Gerüche zusammen verbinden sich zu einem unendlichen Geheimnis. Ich betrachte sie prüfend, wie sie, aneinander gelehnt, vollendete Gebilde schaffen, geometrische Figuren, bald werden sie mir nicht mehr fremd sein, aber vorläufig kommt mir nur ein Lächeln entgegen, mit fast geschlossenen Lippen, ein träumerisches Lächeln aus schmalen grünlichen Augen, sie sitzt mit übergeschlagenen Beinen da, den Rücken leicht gekrümmt, die Arme um die Schultern ihres Sohns geschlungen, auf ihren Beinen liegt ein älteres Mädchen in einem roten Samtkleid, und hinter ihren glänzenden Locken, die ausgebreitet sind wie ein Fächer, ist die Stirn eines blassen Mannes zu sehen, mit ergrauenden Haaren und dunklen, tief liegenden Augen und dichten Augenbrauen, die sie beschatten, seine Hände massieren ihren Nacken und ihre Schultern, die sich im Rhythmus der Melodie hin und her bewegen.
    Dein Gott freut sich deiner, wie sich ein Bräutigam über seine Braut freut … Die Stimmen der Erwachsenen versuchen, die Stimme der Lehrerin zu begleiten wie eine langsame Karawane, gehorsam, jedoch ohne Begeisterung, während die Kinder schon die Geduld verlieren und kichern. Komme in Frieden, Krone des Gatten, in Freude und Frohlocken inmitten der Gläubigen, des Gott eigenen Volkes, komme, Braut, komme, Braut … Für einen Moment scheint es, als wären wir bei einer Hochzeit gelandet, ausgerechnet jetzt, am Schabbat unserer Trennung, sind wir dazu verurteilt, gefühlvolle Hochzeitslieder zu singen, und die Lehrerin bestätigt meinen Verdacht mit ihrer lauten Stimme, sie gibt den ratlosen Kindern ein Rätsel auf, wenn Königin Schabbat die Braut ist, wer, glaubt ihr, ist dann der Bräutigam? Ich weiß, ich weiß, Gott, sagt ein Mädchen mit zerzausten roten Haaren, und die Lehrerin sagt, nein, nicht Gott, hört zu, nachdem die Welt erschaffen war, beschwerte sich die Königin der Tage bei dem Ewigen, dass sie keinen Partner habe, während die anderen Tage der Woche einen hätten, und der Herr beruhigte sie und versprach ihr, das Volk Israel werde ihr Partner sein, ihr Bräutigam.
    Wie kann das sein, Gili schaut mich zweifelnd an, so viele Bräutigame für eine Braut? Aber die Lehrerin hält sich nicht mit Kleinigkeiten auf, sie scheint diese Geschichte schon dutzendfach erzählt zu haben, sie fährt schnell fort, wisst ihr, vor vielen hundert Jahren trugen die Rabbiner weiße Kleidung und zogen auf das Feld, um die Königin Schabbat willkommen zu heißen, sagt sie und erhebt sich, auf ihrer Oberlippe glänzen Schweißtröpfchen, vielleicht ziehen wir jetzt auch hinaus und sehen, wer als Erster die Königin Schabbat entdeckt. Die meisten Kinder reagieren sofort auf die Herausforderung, sie verlassen die Familiendecken und sammeln sich um ihre Lehrerin, ich versuche, den zögernden Gili anzutreiben, der sich an mich schmiegt und seinen Kopf in meinen Schoß legt, geh, du musst mit den anderen gehen.
    In wildem Trab laufen die Kinder an ihm vorbei wie fröhliche Fohlen, gleich werden sie ihn auf ihrer Flucht zertrampeln, und da bleibt einer vor ihm stehen, sein zartes Gesicht erwachsen und ruhig über den schmalen Schultern, komm, Gili, sagt er, ohne zu lächeln, komm mit mir, und plötzlich verfliegt seine Niedergeschlagenheit, sogar dass wir keine Decke haben, ist nicht mehr wichtig, und als wäre er auf einmal ein anderes Kind, springt er auf die Füße, vergisst die traurige Andersheit unserer Familie und läuft

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