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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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hinreicht, erwachen sie wie durch ein Wunder zum Leben, sie strecken die Hände aus, verbeugen sich tief, um ihren Dank zu zeigen, ihre Lippen sind zu einem Lächeln gespannt, aber schau nur, wie kurz das Leben ist, das ihnen die Münze schenkt, jetzt haben sie ihre Stellung wieder eingenommen, ihre Gesichter versteinern, ihr Blick wird starr. Hinter ihnen erhebt sich die Kathedrale in ihrer ganzen nächtlichen Schönheit, ihre Fassaden sind erleuchtet, sehen aus wie eine unvergleichliche Stickerei, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden ist, wie kann Stein nur so weich sein, so weich wie Stoff, es ist, als hätte sich ein königlicher Samtumhang auf die Stadt gesenkt, schau, die Tauben, die wie Glühwürmchen zwischen den Kreuzen herumflattern, das elektrische Licht wird von ihren Körpern gefangen, und sie verteilen es unter dem dunklen Himmel, langsam und verträumt fliegen sie, als wären sie in einen tiefen Schlaf versunken und könnten jeden Moment herunterfallen und als wären diejenigen, auf deren Köpfe sie fallen, für immer und ewig gesegnet.
    Am nächsten Tag stehe ich vor den Häuserfronten, die abgerundet sind, geschwungen wie die Wellen des Meeres, das nicht sehr weit entfernt ist, gefangen in einer unendlichen Bewegung, es ist, als wäre ich aus Stein gemacht, während sie so weich sind wie Federbetten, als stünde ich erstarrt da und sie würden herumlaufen, alles scheint möglich zu sein, ist dies das Geheimnis, das die Stadt mir einzuflüstern versucht, liebe ich dieses Flüstern, liebe ich Barcelona, liebt Barcelona mich, in diesen wenigen Tagen scheint die Antwort ja zu sein, diese Stadt und ich, wir lieben einander.
    Während alle losziehen, um die Sagrada Familia zu besichtigen, bleibe ich im Zimmer, bereite mich auf meinen Vortrag vor, aber als sie zurückkommen, gehe ich fast widerwillig selbst hin, zu der unvollendet gebliebenen Kathedrale Sagrada Familia, von der nicht sicher ist, dass sie noch zu unseren Lebzeiten fertig gestellt werden wird, noch nicht mal zu Gilis Lebzeiten, ich recke den Hals vor den Steinen, die wie ein Wasserfall vom Himmel stürzen oder wie Bäume aus der Erde wachsen, vor dem Bild der Heiligen Familie, in deren Mittelpunkt immer die Mutter und ihr Sohn stehen, der Sohn und seine Mutter, die einfachste Überlieferung, die keiner Beweise bedarf. Gaudí hat gerade Linien gehasst, erklärt die Fremdenführerin neben mir mit müder Stimme, in der Natur gibt es keine geraden Linien, und er hat sich nur auf natürliche Linien gestützt, und sofort erzählt sie vom Tod des Architekten, der genau hier von einer Straßenbahn überfahren wurde, als er ein paar Schritte zurücktrat, die Baupläne der Kathedrale in der Hand, die wenige Tage später zu seiner Grabstätte wurde, und die Türme betrachtete, irgendein nachlässig gekleideter alter Mann, erst nach zwei Tagen hat man ihn identifiziert. Hier ist er begraben, in der Krypta der Kathedrale, wie jener griechische Archäologe in Thera, und wie damals seufze ich bei dem Anblick, doch diesmal steht nicht Amnon neben mir und schüttelt den Kopf, es sind Hunderte lärmender Touristen. Warum bemühen sie sich so sehr, das Gebäude fertig zu stellen, fragt jemand hinter mir auf Hebräisch, man müsste es so lassen, so unfertig, als Symbol für alles, was wir in unserem Leben nicht vollenden können, und ich suche mit den Augen den Sprecher, der schon in der Menge untergegangen ist, er hält einen kleinen Jungen an der Hand, wenn Gili hier wäre, würde er vielleicht sagen, Gaudí baut dieses Schloss vom Himmel aus fertig, nachts, wenn ihn keiner sieht.
    Es ist erst ein paar Monate her, da trafen wir uns bei einem anderen Kongress, in einer anderen Stadt, vor einem grauen Fluss, wir sind wie ein Wanderzirkus, wir ziehen mit unserer Ware umher, die sich fast nie erneuert, und es ist, als wäre zwischen diesen Reisen die Lebenszeit zusammengefaltet, vom Fötus zum Greis, und das Gleiche noch einmal, vom Greis zum Fötus, und ich wundere mich, dass sich bei meinen Kollegen nichts verändert zu haben scheint, so gut gelaunt pellen sie das Ei in dem gelb gestrichenen Frühstücksraum im Souterrain oder holen sich noch etwas Käse vom Buffet, gelassen erkundigen sie sich, wie es Amnon geht, die meisten kennen ihn gut, in der Vergangenheit hat er oft an diesen Reisen teilgenommen, aber in den letzten Jahren war die Zahl der Einladungen geringer geworden und die Veröffentlichungen hatten sich verzögert. Anfangs wunderten sie sich,

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