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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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seine giftigen Schwaden in meine Richtung schickt, soll ich nach der Ursache des Feuers suchen, nach verkohlten Holzbalken und Asche, nach umgestürzten Mauersteinen und Ziegeln, und ich wiederhole in der Dunkelheit einfache Merksätze, klammere mich an ihnen fest wie an dem Geländer über einem Abgrund, denk dran, in verlassenen Häusern findet man anderes als in zerstörten, die Gegenstände aus den Trümmern eines Hauses sind Zeugen eines begrenzten Zeitraums seiner Geschichte, man kann aus den Gegenständen etwas über das Alltagsleben der Bevölkerung erfahren, so wie es war, bevor die Stätte verlassen oder zerstört wurde.
    Merke dir, das Alltagsleben ist nicht ganz statisch, aber der Wandel geht langsam vor sich und gleicht ein wenig der biologischen Entwicklung in der lebendigen Welt, nur manchmal lässt sich ein plötzlicher und bedeutungsvoller Einschnitt erkennen, als Folge einer technischen Errungenschaft, der Erfindung eines neuen Werkzeugs, der Gewinnung eines neuen Materials. Merke dir, im Allgemeinen gibt eine Ausgrabung nicht Aufschluss über alle offenen Fragen, Fakten, die man dabei entdeckt, beantworten alte Fragen, und zugleich werfen sie neue auf. Und man darf die Fundstücke, die zu einem Komplex gehören, nicht mit Gegenständen des benachbarten Komplexes zusammenwerfen, denn dann bekommt man ein ungeordnetes und unverständliches Durcheinander von Fakten.
    Merke dir, die Deutung menschlicher Handlungen unterscheidet sich in ihrem Wesen nicht von der Deutung der Phänomene auf naturwissenschaftlichem Gebiet, merke dir, dem Ausgrabenden wird es nie gelingen, alle Bruchstücke eines Bildes zu finden, er muss es entsprechend den historischen Fakten und nach logischen Überlegungen vollenden, auch historische Quellen können falsch sein, irrtümlich oder aus Böswilligkeit, der Archäologe verfügt zu allen Zeiten über eine bestimmte Wahrheit, und sie existiert so lange, bis neue Fakten entdeckt werden, die diese Wahrheit verändern und erweitern.
    Wo stand das Sofa, ich kneife die Augen in der dunklen Leere zusammen, wo hing das Bild der Pariserin, ich scheine es schon vergessen zu haben, es ist, als wäre diese Wohnung schon immer leer gewesen, ein heftiges Erschauern drückt mich an die Wand, wie soll ich meine Aufgabe erfüllen, zu schnell sind die meisten Fundstücke entfernt worden, die Überreste können nicht mehr erfasst werden, die Erde wurde nicht gesiebt, eine Ausgrabung, die nicht dokumentiert wurde, ist, als hätte es sie nie gegeben, und mir scheint an diesem Morgen nichts anderes übrig zu bleiben, als die Grube wieder mit der Erde zu schließen, die ausgehoben wurde, merke dir, man darf eine Ausgrabungsstätte nie einfach aufgeben und sich selbst überlassen, man muss sie zudecken, um nachfolgenden Generationen die Möglichkeit zu geben, da fortzufahren, wo die frühere Ausgrabung geendet hat, merke dir, eine Ausgrabung ist wie eine offene Wunde im Körper einer historischen Stätte, und wenn man sie nicht schließt, wie es sich gehört, wird sie weiterwuchern und ihre Umgebung zerstören.
    In unserem Schlafzimmer ist eine riesige Matratze zurückgeblieben, auf der ich mich ausstrecke, eine nackte Matratze, helle Samenflecken, Blutflecken in warmen Erdfarben, großflächige gelbliche Urinflecken, Erinnerungen an die nächtlichen Besuche des Jungen, geheime Kontinente, das ist die stumme Landkarte unserer kurzen Familienzeit. Ich prüfe zum letzten Mal den Blick aus dem Fenster, eine dunkle, fast rötliche Wolke sinkt mitten am Vormittag vom Himmel, wird gefangen von den dünnen Zweigen des toten Baums, die sie langsam, mit letzter Kraft ergreifen, und die Wipfel der Zypressen winken mir zum Abschied mit grünschwarzen Fackeln zu, wie bei einer Zeremonie am Tag der Erinnerung, zehn Fackeln zähle ich, wie ein Minjan, unsere zehn gemeinsamen Jahre, die Palmenwipfel neigen sich in plötzlicher Nervosität zur Seite, wie ein Mensch, der versucht, seinen Nebenmann von der Richtigkeit seiner Forderungen zu überzeugen, aber vergeblich, vergeblich.
    Ein feuchter Dunst dringt durch das offene Fenster, gleich wird es wieder regnen, ich laufe zum Balkon, um die Wäsche abzunehmen, die ich gestern Abend aufgehängt habe, aber die Leinen sind leer, die Zimmer, an denen ich vorübergehe, sind leer, als wäre ein Dieb hier gewesen und hätte nur eine armselige Matratze zurückgelassen, von der aus man den toten Baum sieht, und wieder lasse ich mich auf sie fallen, meine Knochen ächzen, die

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