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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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schien es, als hörte ich ihn flüstern, Wühlmäuschen, komm zu mir zurück, komm zurück. Warum flüsterte er, wenn er wollte, daß ich ihn höre, warum schrie er nicht, ein Flüstern, das immer leiser wurde, ich mußte stehenbleiben und mich bücken, um es aus der Erde hervordringen zu hören, wie das Flüstern von Opfern eines Einsturzes, bis man zu ihnen gelangt, sind sie schon tot.
    Ich setzte mich auf den schmalen Gehweg, überwältigt von Traurigkeit, und dachte, noch ist es nicht zu spät, ich kann zurückgehen, bestimmt schläft er jetzt, ich kann schnell zurückgehen, mich ausziehen und ins Bett legen, als wäre ich nie aufgestanden, Arie hat sicher bereits vergessen, daß er mich eingeladen hat, und ich sah mich um, suchte nach einem Zeichen und dachte an einen Stern, der die Form eines Schwertes hatte und vor der Zerstörung des Tempels ein ganzes Jahr lang über Jerusalem geleuchtet hatte, weder im Sommer noch im Winter hatte er sich fortbewegt, und sogar am hellichten Tag konnte man ihn leuchten sehen, aber ich stand sofort auf und ging mit wilden Schritten weiter, ich konnte auf diese Gelegenheit nicht verzichten, und erst vor seiner Wohnungstür blieb ich stehen und lauschte schwer atmend auf die Geräusche um mich herum.
    Aus der Wohnung gegenüber drang das Geschrei des Babys, auf das aufzupassen ich einmal angeboten hatte, bei Gelegenheit, aber in der Wohnung der Familie Even war es still, und ich klopfte leise, fast streichelte ich die Tür nur, die mir so vertraut war, vertrauter als sein Gesicht, das vor mir auftauchte, schwer und ernst, und er schloß die Tür schnell hinter mir ab und führte mich zum Schlafzimmer, das fast nicht mehr zu erkennen war, so sehr hatte es sich verändert, alles Medizinische war verschwunden, die Betten waren wieder zusammengerückt, die Bettbezüge trugen ein Blumenmuster, es gab große weiche Kissen, und an beiden Seiten standen kleine Kommoden aus Holz und darauf runde Bettlampen, und auf seiner Seite sah ich einen Aschenbecher voller Kippen und ein volles Glas, und auf der anderen Seite stand nichts auf der Kommode, als warte sie nur auf all meine Cremes. Wann hat er das geschafft, dachte ich, gestern noch sah dieser Raum aus wie eine Krankenstation, und jetzt ist er sauber und strahlend und anonym wie ein Hotelzimmer, genau so hatte ich mir das Zimmer in Istanbul vorgestellt, und einen Moment lang war ich wütend auf ihn, wie schnell hatte er ihre Spuren verwischt, und ich überlegte, wenn sie, die fast dreißig Jahre mit ihm zusammengelebt hatte, an einem Tag verschwunden war, wie schnell würde ich verschwinden, wenn ich, sagen wir mal, ein knappes Jahr mit ihm zusammengewesen wäre.
    Wie hast du das geschafft, fragte ich ihn, und er sagte entschuldigend, ich habe nicht besonders aufgeräumt, ich habe nur den ursprünglichen Zustand wiederhergestellt, und ich blickte mich ängstlich um, eigentlich hatte ich mich im vorigen Ambiente wohler gefühlt, und ich stellte meinen Koffer auf den Boden und setzte mich darauf, als wäre ich auf einem Flughafen, und er betrachtete spöttisch meinen Koffer und sagte, was hast du uns mitgebracht, und ich, mit einem schiefen Lächeln, sagte, alle möglichen Überraschungen, denn plötzlich schämte ich mich, daß ich das Ding mitgeschleppt hatte, man lud mich für eine Nacht ein, und ich kam mit einem riesigen Koffer, wie Mary Poppins.
    Zeig mal, sagte er und hob mich hoch, machte den Koffer auf und zog sofort einzelne Teile heraus, alles, was schwarz war, er prüfte jedes Stück und sagte schließlich, nicht schlecht, und dann fing er an zu lachen, es war so beschämend, ich setzte mich auf das Bett, legte den Kopf zwischen die Knie und fing fast an zu weinen, ich hoffte, daß er gleich anfangen würde zu husten, damit dieses Lachen aufhörte, und dann setzte er sich neben mich, legte mir den Arm um die Schulter und sagte, sei nicht beleidigt, ich lache nicht über dich, dein Koffer macht mir Spaß, ich bin bereit, mich zu verpflichten, daß du hier nicht wieder rausgehst, bevor wir nicht jedes einzelne dieser Kleidungsstücke benutzt haben, und er hob meinen Kopf, sah mich an und sagte, es ist gut, daß du mich zum Lachen bringst, schließlich ist es eine gute Tat, Trauernde zu trösten.
    Du siehst nicht übermäßig traurig aus, sagte ich, und er fuhr mich aggressiv an, ich hasse es, wenn man mir vorschreibt, was ich fühlen soll, ich werde auf meine Art trauern und zu der Zeit, zu der ich will, mit vierzehn habe ich

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