Liebeslüge, Liebesglück? (Julia) (German Edition)
den Pinsel ab, stieg vom Stuhl und ging zur Haustür. Als sie öffnete, sah sie den Postboten wieder in seinen Lieferwagen steigen. Sie winkte ihm kurz zu und hob den Umschlag auf, der auf der Fußmatte lag. Als sie die Handschrift erkannte, zog sich in ihrem Innern etwas zusammen. Der Brief war von Ian. Mit klopfendem Herzen ging sie in die Küche, wo sie sich an den Tisch setzte, den Umschlag öffnete und zu lesen begann.
Liebste Marisa, es gibt etwas, das ich Dir unbedingt sagen muss …
Als sie fertig gelesen hatte, saß sie eine Weile da und blickte starr vor sich auf den Tisch. Sollte sie wirklich tun, worum Ian sie bat?
Erst nach einem Tag und einer schlaflosen Nacht konnte Marisa sich zu einer Antwort durchringen. Am Morgen suchte sie ihr Handy und schickte ihm eine SMS. Es war das erste Mal, dass sie wieder Kontakt zu ihm aufnahm – nach über einem Monat. Fast sofort schrieb Ian zurück, ganz außer sich vor Freude. Er teilte ihr mit, er werde alles arrangieren, sie müsse nur nach Plymouth zum Bahnhof fahren. Er würde sie nachmittags vom Bahnhof Paddington abholen.
Marisa war weit weniger euphorisch und hatte große Zweifel. Sollte sie sich wirklich auf dieses Vorhaben einlassen? Sie blickte sich in dem kleinen Cottage um, das so viel wohnlicher war als bei ihrer Ankunft. Sie hatte einen Frühjahrsputz gemacht und strich nun ein Zimmer nach dem anderen neu. Der Garten war in üppiger Frühlingspracht erblüht, Vögel zwitscherten, und die milde Luft machte Vorfreude auf den Sommer.
Sollte sie wirklich diesen idyllischen Zufluchtsort verlassen, an dem sie nach all ihrem Schmerz endlich Frieden gefunden hatte? Würde sie es schaffen, wieder nach London zu fahren, um zu tun, worum Ian sie bat? Er wollte, dass sie wieder Teil seines Lebens wurde.
Marisa war zwischen Widerstreben und Sehnsucht hin und her gerissen. Doch Ian war felsenfest davon überzeugt, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen war, um zu tun, was er unbedingt tun musste: die Wahrheit über sie beide zu sagen.
Das bekräftigte er noch einmal, als sie sich in einen Pub in der Nähe des Bahnhofs Paddington setzten.
„Ich muss das einfach tun, Marisa“, sagte er. „Ich muss es Eva erzählen. Und du musst dabei sein, damit sie begreift, was du mir bedeutest.“
Beklommen sah Marisa ihn an. „Ian, ich weiß nicht, ob das …“
„Ich schon. Ich bin mir ganz sicher“, entgegnete er eindringlich, nahm ihre Hand und drückte sie liebevoll. „Ich will einfach nicht mehr mit dieser Lüge leben. Ich habe es wirklich versucht. Aber schon als du noch in London warst, fand ich es furchtbar, alles geheim halten zu müssen. Es darf einfach kein Geheimnis mehr sein.“
Er atmete tief ein und fügte hinzu: „Es ist nicht nur so, dass ich dich schrecklich vermisst habe. Es hat sich auch einiges verändert. Weißt du, dass ich den Job beim Unternehmen von Evas Bruder hingeworfen habe? Ich bin so unglaublich froh, dass ich das getan habe! Ich habe jetzt eine andere Stelle und freue mich schon darauf, was ich daraus alles machen kann.“ Sein Enthusiasmus und seine Energie waren ihm deutlich anzumerken.
„Ich bin jetzt Marketingdirektor eines Fair-Trade-Unternehmens, das seine Produkte im großen Stil in die Supermärkte bringen will“, berichtete Ian begeistert. „Außerdem ist es toll, dass ich mich Evas Bruder nicht mehr verpflichtet zu fühlen brauche. Angesichts der Umstände ist mir das sehr wichtig.“ Er sah sie vielsagend an und drückte wieder ihre Hand.
„Endlich bin ich in der Lage, ganz offen über dich zu sprechen und allen die Wahrheit zu sagen. Und das werde ich heute Abend tun.“ Als wolle er sich Mut machen, atmete Ian tief ein. „Wir müssen der Welt von uns erzählen, Marisa.“ Er stand auf und zog sie mit sich. „Los, packen wir’s an!“, fügte er lächelnd hinzu.
Tief in Gedanken drehte Athan ein Weinglas hin und her, das auf dem Tisch in einem der privaten Speiseräume des Hotels stand. Eva sprach mit dem Butler, weil sie ihre Meinung geändert hatte und es jetzt ein anderes Dessert geben sollte.
Athan war das völlig egal, er hatte ohnehin keinen Appetit. Ebenso wenig hatte er Lust auf diese Farce, die „kleine Familienfeier“, zu der Eva ihn in ihr Lieblingshotel in der Park Lane eingeladen hatte.
„Das Ganze war Ians Idee“, hatte sie fröhlich berichtet. „Er will von seiner neuen Stelle berichten, von der er ganz begeistert ist. Ich übrigens auch. Man hat das Gefühl, eine riesige Last sei von
Weitere Kostenlose Bücher