Liebesnächte in der Taiga
den General mit solchen Dingen nachts zu belästigen. »Ich schlage vor«, fuhr er fort, »wir bringen diesen Irren zurück an die Grenze und schieben ihn wieder ab. Wenn er sich wehrt, übergeben wir ihn der sowjetischen Grenzstation Kisyl-Polwan.«
Ein Klopfen unterbrach ihn. Einer der Offiziere trat ein, beugte sich vor und flüsterte Aref etwas ins Ohr. Plötzlich bekam der Oberst rote Backen und einen wirren, irritierten Blick.
»Herr General«, sagte er, und seine Stimme klang etwas gedrückter, »soeben höre ich von einem meiner Herren, daß dieser Verrückte behauptet, nicht allein zu sein. In der Schlucht Planquadrat III/Punkt 9 sollen eine Frau und ein Kind warten. Abholen sollen wir sie. Ich werde sofort feststellen, ob es den Tatsachen entspricht oder eine neue Idiotie ist. Ich melde mich sofort wieder, Herr General. Jawohl, ich halte Sie auf dem laufenden …«
Semjonow saß noch immer auf dem Stuhl, als Oberst Aref ins Zimmer zurückkam. Eine Zigarette rauchte er jetzt. Der Offizier, der ihn nach Arefs Weggang weiter verhört hatte, hatte sie ihm angeboten. »Zu jeder Auskunft bin ich bereit«, sagte Semjonow in dem Augenblick, als Aref eintrat. »Aber vorher flehe ich Sie an, meine Frau und mein Kind aus der Schlucht zu holen.«
Oberst Aref warf die Tür zum Funkraum zu. Einen harten Knall gab es, und Semjonow drehte sich erschrocken um.
»Was heißt das?« rief Oberst Aref, ehe Semjonow sprechen konnte. »Keine Märchen, Mr. Semjonow! Frau und Kind in der Schlucht? Womöglich noch eine Herde Kamele …«
Semjonow schüttelte den Kopf. Wie schwer ist es, Menschen zu überzeugen, daß man aus einer Hölle kommt. Wie wenig würden sie es begreifen, wenn man ihnen von Karpuschin erzählte. Kann man es ihnen übelnehmen? Wer kennt schon das riesige, wilde Land von der mongolischen Steppe bis zum ewigen Eismeer?
»Geben Sie mir Soldaten mit«, bat Semjonow. »Ich führe sie hin.«
»In welche Schlucht?« fragte Aref.
»Der Teufelstritt. Die Russen nennen sie so …«
»Planquadrat III/Punkt 9?«
»Es mag sein.« Semjonow lächelte nachsichtig. Langsam begann er, umzudenken. Ich bin kein Russe mehr. Im Westen bin ich wieder, und hier geht es komplizierter und präziser zu als bei uns in der Taiga. Sagst du zu einem Jäger, ich komme von Norden oder von Osten, er wird dich verstehen und genau wissen, woher du kommst … Aber hier geht es nach Planquadraten und Nummern, und jeder Zentimeter Land hat eine Zahl in Hunderten von Akten.
»Ich kenne die Einteilung Ihrer Generalstabskarte nicht, Sir«, sagte Semjonow. »Aber die Schlucht kenne ich.«
»Ich denke, Sie sind amerikanischer Agent?« Oberst Aref zog die Lippen hoch. Schöne Zähne hatte er.
»Für Sibirien, Sir. Leider mußte ich einen südlichen Rückweg nehmen. Ich habe mich an der Schlittenfahrt durch den Norden satt gesehen …«
Irritiert setzte sich Oberst Aref. Genau unter einem Bild in goldenem Rahmen saß er, und es zeigte den Schah in goldglänzender Marschalluniform. »Die Schlucht ist sowjetisches Hoheitsgebiet!« sagte Aref steif.
»Ich weiß.« Semjonow beugte sich vor. In seiner Hand zitterte die Zigarette. »Etwas mehr als ein Kilometer ist es bis zu Ihrer Grenze. Helfen Sie mir, meine Frau und mein Kind zu holen.«
»Wie stellen Sie sich das vor?« Aref sah hinüber zu seinen Offizieren. Keine Provokationen, hieß dieser Blick. Ein freier Staat sind wir und achten die Gesetze. »Wie können wir Ihre Frau und das Kind holen? Eine eklatante Grenzverletzung ist es, wenn iranische Soldaten sowjetisches Territorium betreten! Ich würde meinen Truppen sofort das Feuer freigeben, wenn von der anderen Seite Rotarmisten auf iranisches Gebiet kämen!«
Semjonow sprang auf. Eine Explosion war in ihm, und sein Herz brannte.
»Den Knöchel hat sie sich verletzt!« schrie er. »Sie kann nicht gehen! Wollt ihr, daß sie in der Schlucht verreckt? Und das Kind? Noch kein Jahr ist es alt! Soll es verhungern?«
Oberst Aref nagte an der Unterlippe. Den General müßte man fragen, dachte er. So etwas entscheidet kein kleiner Oberst. Das ist Politik. Wer weiß, wer dieser Semjonow wirklich ist? Soll mein Name genannt werden als Verletzer sowjetischer Rechte?
»Wir werden sofort die sowjetischen Kollegen in Kisyl-Polwan verständigen«, sagte Aref. »Sie sind dafür zuständig.«
Semjonow nickte. Wie eine große Jahrmarktspuppe stand er da, und jemand hatte an seinen Spiralhals gestoßen, und nun nickte er immerfort.
»Das wäre Mord«,
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