Liebesnächte in der Taiga
so schnell es möglich ist.
Danach lag sie wach und sah in den fahlen Himmel. Den Mond sah sie nicht, er schwamm über dem dichten Gestrüpp wie in einem engmaschigen Netz. Ihr Herz war schwer, aber sie weinte nicht. Ihr Abschied von Rußland war still. Ich habe Pawluscha und Nadja, dachte sie. Sie allein bilden meine Welt. Im Herzen werde ich die Taiga tragen … aber in den Händen halte ich sie, den Mann und das Kind. Was kann ein Weib sich mehr wünschen … sagt es mir, Freunde …
Noch ein zweites Magazin seiner Nagan schoß Semjonow leer, dann hatten ihn die iranischen Grenzpatrouillen erreicht. Von drei Seiten kamen sie aus den Felsen. Khakibraune Uniformen trugen sie, und die Schnellfeuergewehre hatten sie schußbereit angelegt. Ein Soldat mit einer Silberkordel um die Mütze, ein Offizier mochte es sein, rief Semjonow in persischer Sprache an, und Semjonow hob die Arme hoch und wartete, bis man ihn umringt hatte.
»Du – Russe?« fragte der Mann mit der Silberkordel. Ein junges Bürschchen mit einem flotten Schnurrbart unter der gebogenen Nase, und sein Russisch klang wie aus einem Wörterbuch gelernt.
»Ja«, antwortete Semjonow und nickte. »Aus der Schlucht komme ich. Bitte helft mir, Freunde. Meine Frau und mein Kind warten auf uns …«
Bedauernd hob der junge Offizier die Schultern. Dann sagte er etwas in seiner Sprache. Ein Soldat trat an Semjonow heran, zog ihm mit einem Ruck die Nagan aus dem Gürtel und warf sie den anderen zu. Dann winkte man ihm, und eingekreist von den Soldaten wurde er um die Felsen herumgeführt zu einer schmalen, aber festen Straße, die abfiel in die nächtliche Dunkelheit. Zwei Jeeps warteten dort, und Semjonow stieg ein, ohne daß man ihn dazu aufforderte. Hinter ihn setzten sich drei Soldaten, und er spürte in seinem Nacken die drei Läufe der Gewehre, auch wenn sie nicht an seiner Haut lagen.
Es muß selten sein, daß hier ein Russe über die Grenze kommt, dachte Semjonow. Eine Aufregung ist's, als wäre eine ganze Armee eingefallen. Er sah den jungen, bärtigen Leutnant mit einem Sprechfunkgerät hantieren, aus der Dunkelheit kamen andere Soldaten zurück und meldeten. Man suchte die ganze Grenze ab.
Noch dachte Semjonow russisch, aber bald sollte es sich zeigen, daß das falsch war. Rußland lag hinter ihm, und wenn die Grenze, die er überschritten hatte, auch nur ein Streifen auf der Landkarte war, ein kahler Felsenstrich, der in Rußland genauso vom Wind umweht wurde wie in Persien … eine andere Welt war's von jetzt an, völlig verschieden wie die beiden Seiten eines Geldstückes.
Dann fuhren sie durch Schluchten und über eine Hochebene. Der kalte Fahrtwind blies Semjonow in die Augen. Ein Steppenstück erreichten sie, mit hohem, dürrem Gras, und in einer Senke blinkten plötzlich Lichter. Wachttürme wuchsen in den Nachthimmel und ein hoher Zaun aus Draht.
Semjonow lächelte müde. Die Welt ist überall gleich, dachte er bitter. Ohne Zäune kommt sie nicht aus. Man sollte wieder weinen, Genossen …
So erreichten sie ein Militärlager der iranischen Armee. Die Baracken standen in Reih und Glied wie versteinerte Kompanien. Am großen Tor wartete die Wache mit Maschinenpistolen, und von den Wachttürmen tasteten sich die Strahlenfinger der Scheinwerfer durch die Nacht und erfaßten die beiden über die staubige Steppe hüpfenden Jeeps.
Der junge Leutnant ließ ein paarmal hupen. Das Tor wurde aufgestoßen, mit heulenden Motoren fuhren sie in das Lager und hielten vor einer Baracke, auf deren Dach eine Fahne wehte.
Semjonow stieg aus und sah sich um. Erinnerungen überfielen ihn. 1946. Die Flucht aus dem Lager Borissow. Nach drei Tagen fing man ihn wieder ein. In einer Scheune lag er, kraftlos vor Hunger, und ein spielendes Kind hatte ihn der Miliz verraten. Genauso war's wie heute … Er kam zurück, die Scheinwerfer blendeten ihn, und er stand vor der Kommandanturbaracke und wartete, bis Pjotr, der sowjetische stellvertretende Lagerführer, herauskam, in Hosen und mit nacktem Oberkörper und in durchlöcherten Strümpfen, ihn wortlos anstarrte und mit zwei Hieben auf die Erde warf.
Aber heute war es anders. Heute war er in die Freiheit geflüchtet, und die Scheinwerfer beschienen einen glücklichen Menschen, glaubt es mir, Freunde.
Der junge Leutnant mit dem Bärtchen erschien in der Tür und winkte. Semjonow stieg die drei Steinstufen hinauf, und er tat es bedächtig, denn es waren die Stufen zum wiedergewonnenen Leben. In ein Zimmer kam er,
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