Liebesnächte in der Taiga
und legte den Arm um seine Schulter. »Tu es, Pawluscha. Ich habe keine Angst …«
Semjonow schüttelte den Kopf. »Wenn ich wüßte, wo man Menschen trifft …«
»Wenn du auf persischer Seite bist.«
»Ich lasse euch nicht allein!« Semjonow sprang auf und betrat eine Lichtung in dem Buschgewirr. Von hier aus konnte er das Ende der Schlucht sehen. Sie stieg leicht an und mündete zwischen zwei Bergen in einen neuen, seitlich sich wegschwingenden Hohlweg.
Dort muß Persien sein, dachte Semjonow. Hinter der Schlucht beginnt die Freiheit, sagte Jefimow. Nur diesen Hohlweg braucht man zu erreichen … nur diese wenigen Meter noch, eine Strecke, die unter dem Blick zusammenschrumpft, die einem entgegenkommt wie eine heiße Lockung.
Semjonow wandte sich langsam um und stieß Ludmilla an.
»Wenn ich dir die Tokarev hierlasse …« Er atmete tief vor innerer Erregung. »Nur ein paar Stunden sind's. Die ersten Menschen, die ich finde, bringe ich zu dir.«
Ludmilla nickte. »Ich habe auch noch die Nagan«, sagte sie entschlossen.
»Und wenn es bis zum Morgen dauert?«
»Und wenn es ein ganzer Tag ist. Habe ich jemals Angst gehabt?«
»Nein.« Er zog sie an sich. »Aber ich habe Angst, Ludmilluschka! Wenn Karpuschins Rotarmisten in die Schlucht kommen …«
»Karpuschin sucht uns nicht mehr. Hast du heute einen Hubschrauber gesehen? Wenn er uns noch sucht, dann zuerst aus der Luft! Aber der Himmel war blank, Pawluscha.« Ludmilla sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an, und sein Herz krampfte sich zusammen in neuer Angst, sie und das Kind allein zu lassen in dieser einsamen Schlucht.
»Ich will noch einmal deinen Fuß sehen«, sagte er.
Dick geschwollen war der Knöchel, und die Kühlung in dem eisigen Wildbach schien nichts geholfen zu haben. Unförmig wie ein Kamelhuf sah Ludmillas Bein aus. Sie mußte unerträgliche Schmerzen haben, aber sie lächelte, als sich Semjonow wieder aufrichtete und den Fuß vorsichtig ins Gras legte.
»Ich gehe«, sagte Semjonow heiser. »Ich werde auf persischer Seite in die Luft schießen, so lange, bis mich jemand entdeckt. Wenn Rußland hier eine Grenzstation hat, haben es die Iraner auch!«
Sein Entschluß war der schwerste, den er jemals ausgeführt hatte. Er gab Ludmilla die Tokarev und die fünf Reservemagazine, ging zu der schlafenden Nadja und küßte sie auf den trotzigen Kindermund.
Semjonow nagte an der Unterlippe. Es gab nur diese Möglichkeit, das wußte er. Die Kälte der Nacht war wie ein Alarmsignal. Morgen schon konnte der Himmel grau sein und Schnee in die Schlucht werfen. Was waren da zwei Decken, was zwei warme, sich aneinanderpressende Körper?
Und Semjonow ging. Ein Losreißen war's, als er endlich in der Dunkelheit unterging, aber immer wieder blieb er stehen, sah zurück, ja, als er hundert Meter gegangen war, ging er fünfzig wieder zurück und wollte rufen: »Ich komme wieder, Ludmilluschka! Keine Angst! Ich bin hier! Ich gehe nicht weiter. Ich trage euch alle wieder durch die Felsen! Ihr sollt leben! Jung seid ihr, und die Welt ist für euch noch ein grünes Tal mit saftigen Weiden und wogenden Feldern und im Wind flüsternden Wäldern …« Aber dann ging er doch weiter, und je näher er dem Ende der Schlucht kam, um so schneller wurde sein Schritt. Schließlich lief er, rannte wie ein flüchtender Bär und keuchte dabei aus leergepumpten Lungen.
Wie unendlich ist der Weg, dachte er. Man sieht ihn, man kann ihn fast greifen, aber wenn man ihn läuft, dehnt er sich, und der Horizont weicht zurück ins Unbegreifliche.
Die Bäume am Ausgang der Schlucht. Die Felsen. Der Hohlweg. Am Himmel steht ja ein Mond! Wirklich, ein Mond. Ein runder, heller, silberner, lachender Mond.
Die Freiheit! Das muß Persien sein!
Frei!
Semjonow weinte, und er fühlte sich wie ein neuer Mensch, als er sich wieder aufrichtete, sich das nasse Gesicht abwischte, die Nagan aus dem Gürtel zog und durchlud.
Dann schoß er. In längeren Abständen hintereinander. Er verschoß ein ganzes Magazin und lud dann nach und lauschte in die Nacht hinaus.
In der Schlucht lag Ludmilla neben der kleinen Nadja und hatte sich in die Decke gerollt. Sie hörte die Schüsse, sie hatte darauf gewartet, wie sie noch nie auf einen Ton in dieser Welt gewartet hatte. Nicht einmal der erste Schrei Nadjas in der Hütte an der Muna hatte sie glücklicher gemacht als jetzt das ferne helle Bellen der Nagan.
Er ist in Persien, dachte sie. Pawluscha ist ein freier Mann, und er wird uns nachholen,
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