Liebesnächte in der Taiga
Strecke gelegen hatten, denn sie waren matschig und halb angefault und mit Maden durchsetzt. Die Stadtbeamten in Kusmowka weigerten sich, Verpflegung auszugeben, denn das Lager stand unter der Hauptverwaltung in Krasnojarsk. In Komssa lachten die Beamten einem frech ins Gesicht, wenn man um Mehl und Fleisch bettelte, und sagten: »Genossen, alles muß in einem ordentlichen Staat seine Ordnung haben. Wendet euch an Krasnojarsk. Wir sind froh, wenn unsere Vorräte für unsere Genossen reichen. Wie können wir da noch Kalinin II miternähren? Ihr müßt das einsehen, Freunde.«
Natürlich sahen sie das nicht ein, denn wer ist einsichtig, wenn einem der Magensack schlaff bis zu den Knien hängt? Aus Krasnojarsk aber kamen die wunderlichsten Antworten: Ein Zug ist unterwegs – er kam nie an; eine Lastwagenkolonne rollt heran – sie löste sich unterwegs auf, und niemand sah sie; bis der Winter kommt, sind die Magazine voll, keine Sorgen, Genossen, wer arbeitet, soll auch essen.
Über Nacht brach dann die Katastrophe herein.
Als zöge man einen Vorhang vor, verdunkelte sich der Nachthimmel zu einem bleiernen Grau, dann zog der Herrgott an einer Reißleine, und die Wolken barsten und schütteten Schneemassen über das Land, so daß in zwei Stunden alles begraben war unter weißen, schweigenden Kristallen.
Der Kombinatsdirektor stand im Nachthemd im Flur und schämte sich durchaus nicht, als auch Ludmilla aus der Tür sah, weil das Licht im Flur sie irritierte.
»Da haben wir's, Genossin!« sagte der Natschalnik mit fast weinerlicher Stimme. »Drei Wochen zu früh. Wir werden im Schnee ersticken, nicht eine Maus wird mehr atmen können. Und die Magazine haben keine Vorräte! Ich stelle hiermit fest, daß ich meine Pflicht getan habe. Mehr als anfordern und bitten und betteln kann ich nicht. Gute Nacht!«
Damit drehte er sich um, rannte mit wehendem Nachthemd in sein Zimmer, legte sich ins Bett und hoffte, daß alles nur ein böser Traum und am Morgen das Land wieder ohne Schnee sei.
Leider war es nicht so. Der Schnee blieb, und es schneite sogar weiter. Die Steinige Tunguska bekam ihre Eisdecke, so daß das Flößen aufhörte, die Straßen wurden unbefahrbar, nur die Eisenbahnstrecke blieb intakt, denn hier ratterten Loks mit Schneepflügen über die Schienen und hielten die Verbindung zu Kusmowka frei. Wahrlich ein Segen, solch eine Eisenbahn!
Acht Tage lang konnte man gekürzte Rationen ausgeben. Die Suppe war etwas dünner, die Kascha etwas sämiger, Brot gab es nur noch 300 Gramm pro Kopf, dafür aber Salzfisch genug, pro Mann drei Stück, und dazu große Kessel dampfendes Kipjatok, was nichts anderes ist als heißes Wasser. Aber, o Freunde, was kann man alles mit heißem Wasser machen? Man kann Brotkrumen hineinbröseln und sich so eine Brotsuppe machen, man kann den Salzfisch darin ziehen lassen und hat eine Fischsuppe, und dazu noch das Fischfleisch und die Gräten, die man zwischen den Zähnen pulverisiert, denn sie enthalten ja Eiweiß und Kalk und geben Kraft. Überhaupt, was wäre die Welt ohne Kipjatok? Wer heißes Wasser hat und Phantasie, der überlebt einen russischen Winter.
Am neunten Tag aber platzte jegliche Geduld. Wer zehn Stunden am Holz arbeitet, draußen in den Wäldern, auf dem Holzplatz an der Tunguska oder an der Bahn, in den Sägewerken und Fabriken, der will am Abend nicht auf seiner Pritsche liegen und heißes Wasser mit ein paar Weizenkörnchen Einlage essen.
Ludmilla Barakowa versuchte, mit Schulungsstunden und Parteischlagworten die Stimmung zu dämpfen. Jeden Tag hielt sie Vorträge, aber immer mehr war zu erkennen, daß ein knurrender Magen nicht mit Leninworten gefüttert werden kann.
Überhaupt hatte es Ludmilla Barakowa sehr schwer.
Seit dem Kuß auf der nächtlichen Veranda sprachen Semjonow und sie nur noch in Gegenwart Dritter miteinander. Begegneten sie sich allein, so gingen sie aneinander vorbei, als seien sie taubstumm. Wichtige verwaltungstechnische Dinge teilten sie sich schriftlich mit. Das war eine Erfindung Ludmillas, die als erste schrieb: Hausmitteilung Nr. 1 an den Genossen Semjonow. Prompt folgte die Antwort: Rückmeldung Nr. 1 an die Genossin Barakowa.
Hinzu kam, daß Semjonow viel in den Werken war und sich mit Listen herumschlug, denn Krasnojarsk verlangte jede Woche eine Sollerfüllungsrechnung und einen Bericht, warum die Leistung nicht um soundso viel Prozent zu steigern sei.
Am neunten Tag der Hungerrationen hielt Ludmilla wieder einen Vortrag. Dann
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