Liebesnächte in der Taiga
heimlich?«
»Natürlich heimlich, du Teufelchen«, sagte Jurij zufrieden. »Sonst könnten sie ja in der Herberge wohnen.«
Spät am Abend war's, als Ludmilla und Semjonow endlich allein waren. Jurij war abgefahren und hatte Semjonow und Ludmilla zum Abschied geküßt. Ludmilla hatte eine Hühnerpüreesuppe gekocht, von der Jurij vier Schüsseln voll aß. Semjonow besichtigte das Rohlederlager und ließ sich erklären, daß dies alles noch gegerbt werden müsse, und zwar nach einem Verfahren, wie es vielleicht Marussja noch von ihrer Urgroßmutter gelernt hatte. Kurzum, man lebte sich ein, man lebte sich in diesem einen Tag bereits zusammen, man wurde Freunde und war's zufrieden mit dem Zusammenbleiben bis zum Eisbruch der Unteren Tunguska.
In der Nacht schneite es wieder. Ludmilla kroch nahe an Semjonow heran, legte ihren Kopf auf seine nackte Brust und schlang ihre kalten Beine um seinen Leib.
»Ich bin so glücklich, daß ich weiterlebe«, sagte sie mit leiser Stimme. »Kein Himmel ist so schön wie eine Stunde mit dir …«
Semjonow schwieg. Frühjahr, dachte er. Wann schmilzt das Eis auf der Unteren Tunguska? Im April kann es sein oder erst im Mai … noch fünf Monate. O Gott, was sind fünf Monate … und dann?
Diese Frage beantwortete ihm niemand. Nicht einmal nach dem Morgen konnte er fragen. Jeder Tag trug Gefahren in sich, konnte neue Qualen gebären, konnte sie wieder zurückjagen in die Urwälder der Taiga, in die schweigende weiße Einsamkeit, zu den Wölfen und Renen, Füchsen und Mardern, schlafenden Bären und streunenden Schneetigern.
Weihnachten kam. In Wiwi wiederholte sich etwas, was jedes Jahr um das Weihnachtsfest die Leute aus nah und fern herbeilockte: der ›Kulturkampf‹ zwischen dem uralten Popen Alexeij und dem Stadtsowjet Wladimir Jewsejewitsch Gapka.
Es begann jedes Jahr damit, daß der Pope Alexeij verkündete, morgen feiere man die Geburt des Herrn in der Kirche der Heiligen Jungfrau, wie das Holzkirchlein in Wiwi getauft war. Ein Chor sollte singen, der Gläubige Orjol ein Solo zu Gehör bringen – Orjol, ein Milchhändler, besaß einen herrlichen Baß! –, vor allem aber segnete er, Väterchen Alexeij, alle Christen und empfahl sie der Obhut des Ewigen. Kerzen seien schon jetzt zu kaufen, ebenfalls handgemalte Ikonen. Wie immer im hinteren Teil der Kirche, hinter dem Vorhang und dem Altar.
Genosse Gapka beeilte sich, den Gegenzug bekanntzugeben. Er ließ ein Manifest anschlagen: Morgen findet die große ›Jolka-Feier‹ statt. Väterchen Frost kommt persönlich (es war jedes Jahr der Genosse Barakin, ein Sarghändler), begleitet von Fräulein Schneeflöckchen. Spielzeug, Tannenbäume, Süßigkeiten werden an die Kinder der Werktätigen verteilt.
So kam der denkwürdige siebente Januar, an dem die Russen die Geburt Christi feiern, denn nach dem Julianischen Kalender, der für die orthodoxe Kirche maßgebend ist, wurde Jesus am siebenten Januar geboren.
In die Kirche der Heiligen Jungfrau strömten die Weiblein und Greise, bekreuzigten sich, zogen langsam, einer hinter dem anderen, zum heiligen Gnadenbild, knieten nieder und küßten das Deckglas. Das ist zwar nicht hygienisch, aber tief gläubig. Dann, vereinzelt erst, nachher in Scharen, kamen auch die Jüngeren, gingen zum Bild, knieten, küßten und stellten sich auf.
Väterchen Alexeij, der Pope, stand unterdessen vor der herrlichen Ikonostase, jener Bildwand, die den Chorraum vom Kirchenschiff trennt, hatte die Hände über der Brust gekreuzt und sang mit tiefer, zitternder Stimme sein »Christ ist geboren …« Und die Weiblein, die Greise und die jüngeren Einwohner von Wiwi fielen ein und schwiegen erst, als der stimmgewaltige Orjol, der Milchhändler, seinen Gesang anstimmte und inbrünstig die Geburt des Herrn verkündete.
Unterdessen fand auf dem Marktplatz vor dem ›Haus des Volkes‹ die staatliche ›Jolka-Feier‹ statt. Sarghändler Genosse Barakin stolzierte als Väterchen Frost in der Tracht eines Weihnachtsmannes umher, schwenkte einen glitzernden Tannenbaum, sagte Gedichte auf und küßte seine Begleiterin, das Fräulein Schneeflöckchen.
Mit Schneeflöckchen hatte Genosse Gapka jedes Jahr seine Plage. Es mußte ein attraktives Mädchen sein, kein Kind also, aber es mußte auch eine Jungfrau sein, rein wie der Schnee, den sie verkörperte. Und hier seufzte Genosse Gapka jedes Jahr auf: Die Jungfrauen waren in Wiwi ebenso selten wie überall! Ein schönes, junges Mädchen zu bekommen, von dem
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