Liebesnaehe
eine solche Mutter-Tochter-Beziehung Georg gefallen hätte. Vielleicht konntest Du Jule den plötzlich fehlenden Vater ein wenig ersetzen.
– Ein wenig vielleicht, ja, aber auf keinen Fall ganz. Sie hat ihn sehr geliebt, und er wiederum hat sie sehr geliebt. Er hat sich immerzu Sorgen um sie gemacht.
– Sorgen? Welche Sorgen?
– Sorgen um ihre berufliche Laufbahn als Künstlerin, Sorgen aber auch darum, dass sie nicht den richtigen Mann finden wird. Ich meine einen Mann, den sie
ganz und gar liebt, ich meine einen Mann, mit dem sie so glücklich wäre, wie wir beide, Georg und ich, glücklich waren.
– Hat er das gesagt?
– In letzter Zeit, kurz vor seinem plötzlichen Tod, hat er häufig davon gesprochen. Davor aber fast nie, nein, davor war von solchen Dingen nur sehr selten und dann auch nur in ironischem Tonfall die Rede. Ich weiß aber noch, dass er kaum eine Woche vor seinem Tod richtiggehend verzweifelt war. Damals hat er gesagt, es ist ganz ausgeschlossen, dass sie jemanden findet. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich auf die Suche nach dem richtigen Mann begeben.
– Hat Jule davon gewusst? Hat er mit ihr darüber gesprochen?
– Aber nein, niemals! Er hat seine Witze gemacht, aber er hat ihr nicht gezeigt, wie beunruhigt er war. Wenn sie sich nie richtig verliebt, ist alles umsonst, das hat er gesagt.
– Er hat aber niemanden gefunden, oder doch? Hat er an jemanden gedacht, den er für geeignet hielt?
– Nein, natürlich nicht. Er konnte das Problem nicht ernsthaft angehen, er war viel zu befangen. Er brauchte jemand anderen, der sich dieser Dinge annahm.
– Einen anderen? Aber wen?
– Mich. Ich habe mir meine Gedanken gemacht, und als ich Jule näher kennenlernte, machte ich mir noch mehr Gedanken.
– Und? Du hast Dich um einen Partner für sie gekümmert? Im Ernst?
– Im Ernst.
– Und Du verrätst mir, an wen Du dann gedacht hast?
– Ja, ich sage es Dir, aber Du weißt es doch längst. Du bist es, nur Du!
– Ich?!
– Ja, nur Du! Als wir uns eine Weile kannten, wusste ich, dass Du der Richtige sein würdest.
– Und weiter?
– Ich habe darauf gewartet, dass der richtige Zeitpunkt kommen würde, Euch zusammenzuführen. Scheinbar absichtslos, ohne direkte Eingriffe, alles sollte wie von selbst entstehen.
– Und nun?
– Anscheinend ist alles wirklich von selbst entstanden. Ihr beide habt die Sache, ohne dass ihr von meinen Ideen wusstet, in die eigenen Hände genommen. Ich habe nicht mehr dazu getan, als Euch hierher einzuladen, und zwar so, dass ihr an demselben Tag hier eintreffen und an demselben wieder abfahren würdet. So hatte ich es geplant. Was aber im Einzelnen hier passieren würde, darum wollte ich mich nicht kümmern. Auf keinen Fall.
– Weiß Jule davon?
– Sie weiß natürlich, dass wir uns gut kennen. Mehr weiß sie nicht, und mehr braucht sie auch vielleicht vorerst nicht zu wissen.
Er ist von alldem so überrascht, dass er nur hilflos den Kopf schüttelt. Was soll er noch sagen? Er braucht jetzt endlich Zeit, sich seine eigenen Gedanken zu machen.
– Ich verschwinde jetzt vorerst einmal, sagt er. Das alles kommt für mich etwas plötzlich. Ich kapiere es noch gar nicht richtig.
– Was ist da schon zu kapieren? antwortet sie und lacht plötzlich wie erleichtert. Ich habe Georgs größten Traum zu erfüllen versucht, und ich glaube fast, es ist mir gelungen.
– Und Du warst Dir ganz sicher, dass wir uns so gut verstehen?
– Absolut, und ich erkläre Dir später auch einmal, warum. Aber es hätte natürlich auch etwas dazwischenkommen können. Ihr hättet aneinander vorbeilaufen können, Ihr hättet Euch verfehlen können. Aber das alles ist zum Glück nicht passiert.
– Ich verschwinde jetzt, Katharina.
– Du wolltest mir aber noch einige Ratschläge zu meinen Texten geben. Wir wollten darüber sprechen, wie ich sie verbessern oder bearbeiten kann.
– Das werden wir, bestimmt werden wir das. Ich habe mir dazu auch bereits etwas notiert. Aber nicht jetzt, bitte nicht jetzt. Ich muss jetzt erst einmal abtauchen. Gründlich. Und tief.
Er schafft es immerhin, wieder etwas zu lächeln, dann umarmt er sie noch einmal und gibt ihr einen Kuss. Er dreht sich um und verlässt die Buchhandlung. Draußen auf dem Flur bleibt er stehen, er weiß nicht, wohin er jetzt gehen soll. Erst nach einer Weile fällt es ihm wieder ein. Er schüttelt erneut den Kopf, dann fährt er mit einem Lift ins Tiefgeschoss. Angeblich befindet sich dort
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