Liebesnaehe
Frau, die auf Menschen, die ihr nahekommen, sehr intensiv wirkt. Man ist gern mit ihr zusammen, man unterhält sich vorzüglich mit ihr, man hat das Gefühl, dass sie einen dazu verführt, etwas von sich preiszugeben. Ja, genau so scheint es zu sein, er selbst könnte ja auch von ihrer Kunst der Verführung erzählen. Oft genug hat er sich in den letzten Jahren mit ihr getroffen und scheinbar mit ihr nur über Bücher geredet. Und doch – das Private schwang immer mit, wahrscheinlich
hat sie noch aus seinen abseitigsten Bemerkungen zu diesem oder jenem Buch etwas Besonderes herausgelesen, das etwas über ihn verriet.
Er möchte etwas zu alldem sagen, etwas Summarisches, Treffendes, aber er ist noch nicht so weit, deshalb setzt er einfach noch einmal von vorne an.
– Diese Texte sind eine einzige Trauer- und Erinnerungsarbeit, sagt er, das Schöne und Wunderbare an ihnen aber ist, dass sie den Leser weder traurig noch in irgendeiner Form depressiv stimmen. Ganz im Gegenteil: Sie leuchten, sie erzählen von einer großen Liebe als einem sehr intensiv und bewusst gestalteten Leben. Als ich sie gelesen habe, wurde ich mit zunehmender Lektüre immer heiterer. Man möchte sich sofort verlieben, auf der Stelle, man möchte mit einem geliebten Menschen sofort auf und davon ziehen, bei Sonne, bei Regen, egal, man möchte mit ihm reisen und während der Reise irgendwo innehalten, um etwas zu lesen, das zu dem jeweiligen Ort, an dem man sich gerade befindet, passt.
– Zum jeweiligen Ort oder zu der jeweiligen Stimmung oder zu dem, was einen innerlich gerade beschäftigt, antwortet sie. Die Lektüre sollte einfach passen, das ist es. Nicht jede Lektüre passt, auch wenn das Buch, für sich genommen, noch so gut ist. Man braucht gar nicht einmal viel Zeit, um jeweils herauszufinden, was passt. Man beginnt einfach zu lesen, und schon nach kurzer Zeit zieht einen das Buch in sich hinein oder eben nicht. Und die Folgen dieses Kontakts bestehen dann darin, dass man von sich selbst zu sprechen beginnt und sich über dies und das klarer wird. Die Lektüre dringt in einen ein, sie
verleiht einem Worte, ja, sie lässt einen über Sachen und Dinge sprechen, über die man sonst niemals gesprochen hätte. Das ist das ganze Geheimnis.
– Das ist das ganze Geheimnis, sagt er. Mich überraschte in Deinen Texten aber noch ein anderes, ganz konkretes Geheimnis.
– Ich verstehe Dich nicht, antwortet sie. Was meinst Du?
Er holt etwas Luft, er nimmt jetzt einen Anlauf, denn er muss jetzt damit herausrücken, sofort, ohne weitere Umschweife.
– Katharina, ich habe nicht gewusst, dass Jule Georgs Tochter ist. In einem Deiner Texte bin ich aber darauf gestoßen, dass er von ihr als seiner »einzigen, schönen Tochter« spricht. Stimmt das? Ist sie seine Tochter?
Sie schaut ihn an und fährt sich mit einem Taschentuch kurz über die Augen, dann antwortet sie:
– Ja, es stimmt, Jule ist seine Tochter.
– Und sie ist wirklich seine einzige Tochter? Hatte er nicht sechs Kinder? Und war unter diesen Kindern keine weitere Tochter?
– Doch, ja, natürlich. Er nannte Jule aber in den Jahren, in denen er von seiner früheren Familie getrennt lebte, immer nur seine »einzige Tochter«. Er wollte sagen, dass es die »einzige Tochter« war, die noch zu ihm hielt und ihm noch geblieben war. Außerdem war sie sein Lieblingskind, um keines seiner Kinder hat er sich so sehr gekümmert. Er war geradezu vernarrt in sie, und sie hat diese Zuneigung erwidert.
Wieder hat er das Gefühl, dass er zu langsam ist, um alles genau zu verstehen. Er muss diese Nachrichten erst in Ruhe durchdenken, sie fallen jetzt zu unerwartet über ihn her. Er atmet tief aus und stöhnt ein wenig auf.
– Warum hast Du mir nicht erzählt, dass Jule Georgs Tochter ist?
– Weil ich wusste, dass Du es zum richtigen Zeitpunkt von allein herausbekommen würdest.
– Seit wann genau kennst Du sie denn?
– Ich habe sie erst nach Georgs Tod kennengelernt, wir sind sehr gute Freundinnen geworden.
– Im Grunde bist Du ihre Stiefmutter.
– Ja, schon, aber das Wort ist zu hässlich. Unter einer Stiefmutter stellt man sich ja etwas geradezu Teuflisches vor. Unsere Beziehung ist aber eine ganz andere, es ist eine sehr gute Freundschaft.
– Als ich Euch in diesem Hotel zum ersten Mal zusammen gesehen habe, habe ich gedacht, ich sehe Mutter und Tochter.
– Ja, das trifft es schon eher, unsere Beziehung hat etwas von einer Mutter-Tochter-Beziehung.
– Ich vermute, dass
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