Liebesnaehe
drehen sich einige Mücken oder Insekten, als wären die kleinen Tiere den Insektenzeichnungen entsprungen, die sie an der Vorderfront des Schrankes befestigt hat. »Im Garten ein Summen« – wo hat sie das neulich gelesen?
Sie holt die Kamera und montiert sie auf dem Stativ, sie schaltet das Gerät aber noch nicht ein, sondern geht ein drittes Mal in das Zimmer. Sie öffnet den Schrank und rückt einen CD-Player, den sie sich am vorigen Abend eigens besorgt hat, dicht an den offenen Spalt. Dann drückt sie eine Taste und geht wieder geschwind nach draußen, um die Kamera einzuschalten.
Sie lässt die Kamera laufen, sie filmt jetzt das Schwirren des Sonnenlichts und den mit diesem Licht gesättigten Raum, der voller japanischer Zeichen ist. Im Hintergrund aber ist jetzt auch eine Stimme zu hören, es ist ihre
eigene Stimme, die in großer Ruhe Ausschnitte aus dem Buch des japanischen Wander-Dichters liest.
Gestern Abend hat sie diese Passagen in ihrem Hotelzimmer aufgenommen, und jetzt hört und sieht sie, wie sich der Kreis schließt: Dieser Raum erscheint wie eine Station auf der Reise des Dichters, und die kleinen Gedichte, die er seinen Tagebuch-Aufzeichnungen einfügt, wirken wie Gedichte auf genau diese Umgebung.
Sie steht eine Weile mit leicht geöffnetem Mund da und verfolgt die Licht-Veränderungen der Szene im Display der Kamera. Sie staunt etwas, ja, sie hatte nicht erwartet, ein so dichtes und atmosphärisch aufgeladenes Bild hinzubekommen. Der gelesene Text passt gut zu dieser Stille, eigentlich fehlt nur, dass sich der gefilmte Raum langsam zu drehen und abzuheben beginnt.
Sie lacht, sie ist mit ihrer Projektarbeit sehr zufrieden. Das alles hätte sie niemals geschafft, wenn sie nicht Johannes kennengelernt hätte. Er ist das Zentrum all dieser Aktionen, denn er hat sie, ohne es vielleicht zu ahnen, in Bewegung gehalten und immer weiter vorangetrieben.
Nach einer Weile schaltet sie die Kamera aus, lässt sie aber draußen am Fenster stehen. Sie betritt wieder den Raum und schaltet auch den CD-Player aus.
Dann geht sie an den Schreibtisch und holt die Briefbögen, die sie am Morgen beschrieben hat, noch einmal hervor. Seit sie vor kaum einer Stunde mit Katharina zusammen war, weiß sie, welche Adresse Johannes in München
hat. Sie denkt daran, ihm einige ihrer Aufzeichnungen zu schicken. Und so setzt sie sich noch einmal an den Schreibtisch und schreibt seine Adresse auf mehrere Briefumschläge.
Sie ist jetzt sehr ruhig, sie spürt eine nicht enden wollende Freude.
Warum ich Dir gerne schreibe
Weil Du mein aufmerksamer Geliebter bist
Weil Du meine Zeilen um eigene Zeilen ergänzt
Weil Du wie ich Japanisch verstehst
Weil Du meine Zeilen sammelst und auswendig lernst
Weil Du einige von ihnen immer mit Dir herumträgst
32
ER WILL seine Lektüre in Katharinas Archiv gerade beenden, als er auf eine Passage stößt, die er auf den ersten Blick nicht versteht. Er liest sie mehrmals langsam, er ist irritiert, und so beginnt er, das für ihn nur schwer durchschaubare Geflecht Schritt für Schritt zu entwirren.
Während eines Aufenthaltes in Regensburg notiert Katharina nämlich beiläufig, dass sie Georg aus einem Theaterstück vorgelesen habe. Sie erwähnt den Titel nicht, es scheint in diesem Stück aber vor allem um die Beziehung zwischen einem Vater und seiner Tochter gegangen zu
sein. An diese eher beiläufige Notiz schließt sich die Bemerkung an, dass Georg besonders impulsiv von seiner »einzigen, schönen Tochter« gesprochen und sich schließlich – beinahe etwas sehnsüchtig – gefragt habe, wo sie sich wohl gerade aufhalte. Weiter ist daraufhin notiert, dass er das Gespräch unterbrochen, Jule angerufen und dabei erfahren habe, dass sie in Hamburg sei und dort eine Galerie besuche, die ihre Arbeiten im nächsten Jahr vielleicht präsentieren werde.
Er sitzt still und atmet tief durch. Wie ist das alles bloß zu verstehen? An dieser Stelle ist doch wohl von Jule die Rede, und zwar so, als sei Jule Georgs »schöne Tochter«. Wieso aber dann »die einzige«? Hatte ihm Katharina nicht erzählt, dass er zusammen mit seiner ersten Frau sechs Kinder gehabt habe? Und hatte er das nicht so verstanden, dass es unter diesen sechs Kindern wohl mehr als nur eine Tochter gab?
Wie auch immer – zunächst beschäftigt ihn vor allem die überraschende Entdeckung, dass Jule anscheinend Georgs Tochter ist. Wenn das stimmt, ist Katharina ihre Stiefmutter und keineswegs nur eine gute
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