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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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der nach Objekten aus seinem eigenen Leben auch Objekte aus dem Leben anderer Menschen auszustellen begann. Um solche
Objekte zu finden, ging er auf Flohmärkte, sammelte Kleidungsstücke fremder Personen und brachte sie in großen Mengen an den Decken der Ausstellungsräume an, so dass sie diese Decken in bunten, eng zusammengedrängten Reihen wie schwebende Engel bevölkerten. Auch alte Schwarz-Weiß-Fotografien erwarb er in großen Mengen und dekorierte ganze Räume so mit diesen Aufnahmen, dass sie zu einer einzigen, rätselhaften Fotoerzählung fremden Lebens wurden.

    In seinen Arbeiten kurz vor Georgs Tod beschäftigte der Künstler sich dann mit Aufnahmen von Tönen des menschlichen Herzens. Er nahm zuerst seine eigenen Herztöne auf, später aber auch die anderer Menschen, ja, er hatte schließlich sogar ein Projekt entworfen, das er »Archiv des Herzens« nannte und das Tausende von Herztönen sammelte, die dann auf einer abgelegenen Insel im fernen Japan zu hören sein sollten.

    Schon seit einiger Zeit wollte sie zu dieser Insel fahren. Es ist nicht leicht, dorthin zu gelangen, nein, eine solche Reise soll auch nicht leicht oder bequem sein. Wenn man aber auf dieser einsam gelegenen Insel ankommt, wird man einen großen, stillen Raum betreten, in dem man die Stimme des Künstlers hört. Sie begrüßt den Besucher, und sie fragt ihn: »Wer sind Sie?« oder »Wer bist Du?« Mit dieser Frage im Ohr betritt der Besucher das Archiv der Herzen, um sich auf die Suche nach den Tönen des eigenen Herzens zu machen. Natürlich wird er sie unter den Tausenden von fremden Herztönen kaum entdecken, so dass er sich zunächst fragen wird, wer sich wohl hinter
diesen fremden Klängen verbirgt: »Wer ist er?« oder »Wer ist sie?« Vollkommen sicher ist sie aber, dass sie Georgs Herztöne nach einer Weile erkennen wird, Georgs Herztöne wohlgemerkt, nicht die eigenen, denn Georgs Herztöne, die er kurz vor seinem Tod von dem französischen Künstler hat aufzeichnen lassen, klingen arhythmisch und so einzigartig, dass sie diese Töne jederzeit unter Tausenden erkennen könnte.

    Seltsam … – die erste Nachricht, die Johannes ihr geschickt hat, bestand in der eigenartigen Frage »Wer ist diese Schwimmerin?«, die ihr seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Immer wieder hat sie darüber nachgedacht, an was sie diese Frage erinnert, jetzt aber, genau in diesem Moment ihrer Überlegungen, weiß sie es endlich. Sie erinnert, ja, wahrhaftig, sie erinnert an die Frage des französischen Künstlers, die er den Besuchern des Archivs der Herzen stellt, und sie erinnert noch viel mehr an die Fragen, die sich die Besucher des Archivs der Herzen beim Anhören fremder Herztöne stellen. Soll das etwa heißen, dass auch Johannes die Arbeiten dieses Künstlers kennt?

    Sie bleibt stehen, sie hat keine Lust, weit zu gehen, sie möchte sich nur etwas vom Hotel entfernen, um freier nachdenken zu können. Als sie sich auf der Höhe einer kleinen Kuppe umdreht, schaut sie auf das Hotelgelände herab, sie setzt sich ins Gras und beobachtet, was dort unten geschieht.

    Dann holt sie ihr Handy hervor und orientiert sich auf dem Display. Sie findet schließlich, was sie sucht, und
legt sich nun mit dem Rücken ins Gras. Sie stellt den Klang des Handys lauter, und nach einem Knopfdruck hört sie das Herz ihres Vaters schlagen. Sie schließt die Augen und hört zu, unzählbare Male hat sie diese Töne bereits gehört, doch jedes Mal geht ihr diese Musik so nahe, dass sie oft noch nachts davon träumt. Sie ist allein im Weltraum, und Vaters Herztöne senden eine Botschaft an ferne Planeten. Sie schwebt in einer Sonde durchs All, und Vaters Herztöne kommen aus dem Rauschen der fernen Ozeane. Sie sitzt in einem Gefängnis unter der Erde, und Vaters Herztöne dringen in dieses Gefängnis ein wie Meißelhiebe, die in die schweren Wände das befreiende Loch schlagen.

    Manchmal machen diese Töne sie glauben, Vater lebe noch. Besonders wenn sie müde oder erschöpft ist, wehrt sie sich nur schwach gegen diese Illusion. Sie schließt die Augen und träumt von dem Leben, das sie mit ihm geführt hat. Oft hat sie ihm lange Passagen aus Theaterstücken, Romanen oder Gedichten vorgelesen, dann hat er sich – so wie sie gerade jetzt – irgendwohin auf die Erde gelegt und zugehört. »Hat Henrike Dir früher, als ihr noch ein Liebespaar wart, auch etwas vorgelesen?« hat sie ihn einmal gefragt, aber er hat nur den Kopf geschüttelt und geantwortet: »Kein

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