Liebesnaehe
»schön«, sondern rau und abgründig, sie ist ein schallendes Echo des Körpers, sie ist seine Jägerin, die ihn belauert, verfolgt und schließlich stellt: orgiastisches Laufen, Verausgabung, ein lang anhaltender Taumel entlang der Grenzen zum Schmerz, der sich in pures Glück verwandelt, in reine Ekstase.
Als sie erwacht, ahnt sie nicht, wie spät es eigentlich ist. Die Lichtraster der Hotelfenster sind längst erloschen, und nur noch zwei weit voneinander entfernt liegende Fenster sind erleuchtet. Sie weiß, dass es die Fenster ihrer Zimmer sind, sie brüten nun entleert vor sich hin, während der Lichtstrom im Untergeschoss versiegt ist, als hätte ihn die Erde geschluckt.
Sie richtet sich auf, nimmt einen großen Schluck Wasser und breitet sich dann weit über ihm aus, sie ist jetzt ein Vogel mit großen Schwingen, der seinen Leib zu fassen bekommt und mit ihm davonfliegt. Nach langem, schönem Flug über die weißen Inseln werden sie irgendwo landen, wo sie endlich allein sind und keine aufdringlichen Laute sie mehr erreichen.
Sie öffnet eine Tür, und ein Kind spaziert herein, schaut sich um und betastet die Wände des leeren Raumes. Sie erkennt ihr Atelier, seinen glatten, glänzenden Boden mit den winzigen Furchen, seine warmen Zonen, in denen sie wie sonst nirgends sicher ist. Sie spielt mit ihrem Körper, sie tanzt, singt, springt, hüpft, in diesem Raum gibt es keinen Gegenstand, der ihr noch im Wege wäre. Und niemand beobachtet sie, niemand! Keine Stimme der Mutter, kein Rufen der Geschwister – sie ist allen entlaufen und hat diesen Raum ganz für sich. Dann und wann sinkt sie nieder und legt sich auf den Rücken, dann träumt sie mit offenen Augen von der Zukunft und den ersten Menschen, die ihr auf diesem Eiland begegnen.
Die Berge sind nicht mehr zu erkennen, vor den Fenstern schimmert ein Schwarz, das ausschaut, als wäre es aus flüssigem Wachs, die Wärme des Tages ist noch darin, und die Spuren der letzten Feuer zeichnen sich ab.
Sie bedeckt seinen Körper weiter mit Küssen, sie klettert mit ihren Lippen an ihm hinauf und schnürt ihn mit Küssen zu, dann streckt sie ihre Arme weit aus und passt sie seinen ebenfalls weit ausgestreckten Armen sehr genau an, sie sind jetzt verbunden, als würden sie von zwei starken Fesseln gehalten.
Keine Unterscheidungen mehr, keine Suche nach Abweichungen! Das Ende der ewigen Sucht nach einer Benennung der Differenz!
Wer spricht? Die Sprache der Liebe.
40
IM MORGENGRAUEN verlässt die junge Lea ihr Zimmer und schleicht hinunter ins Foyer des Hotels. Noch ist niemand im Dienst, sie ist ganz allein, und sie genießt es, das Restaurant zu durchqueren und eine Tür hinaus ins Freie zu öffnen. Feine Nebelschleier kauern in den Talmulden und drehen sich auf den Wiesen. Hinter den hohen Gebirgsmassiven lauert das erste Licht. Sie bleibt stehen und betrachtet das Panorama, die Vögel zwitschern unglaublich laut, und die Frische des Morgens reibt ihr Gesicht.
Für einen kurzen Moment schaut sie hinüber zum Gartenhaus. Die Fenster dort stehen weit offen, ein dünnes Licht zuckt gegen die Wände.
Sie macht ein paar Schritte auf das Haus zu, sie bewegt sich mit nackten Füßen durchs Gras.
Dann hört sie einen hohen Akkord, einen einzigen, ausatmenden, lang anhaltenden Klang. Streicher stützen ihn und lassen ihn dann langsam verebben.
Und aus diesem Weben spazieren die ersten Gesellen ans Licht, Holzbläser, munter und mutig, kecke Blechbläser, Klarinetten und Hörner. Ging heut morgen übers Feld, Tau noch auf den Gräsern lag … – sie hört und lauscht.
Sie nähert sich langsam dem Gartenhaus, sie folgt der Musik, und dann schaut sie vorsichtig durch ein Fenster hinein. Sie sieht das große Lager und die Speisen und Karaffen ringsum auf den niedrigen Tischen. Sonst aber ist niemand zu erkennen, nur die Musik ist zu hören, lockend und klar.
Sie schaut sich um und betritt den Raum. Sie legt sich auf das Lager, schlägt die schweren Decken um ihren Körper und streckt sich aus. Dann schließt sie die Augen und horcht auf den Atem der ringsum erwachenden Welt und den Aufbruch der munteren Gesellen in weite, schöne Gefilde.
© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Satz: Greiner & Reichel, Köln
eISBN 978-3-641-10872-4
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