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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Freundin. Und wenn das stimmt, haben beide, Jule und Katharina, in Georg den vielleicht wichtigsten Mann in ihrem Leben verloren, und das vor nicht einmal allzu langer Zeit.

    Georgs Verlust, denkt er weiter, wird die beiden eng miteinander verbunden haben, wahrscheinlich sind sie vor allem durch diesen dann gemeinsam oder auch ähnlich erlebten Verlust ein Paar von sehr guten Freundinnen geworden,
deren Beziehung aber auf viel tieferen Fundamenten ruhte als auf einer bloßen Freundschaft. Die beiden haben nämlich, wenn alles so stimmt, wie er es sich jetzt vorstellt, eine gemeinsame Geschichte, ja im Grunde bilden sie den Zweig einer Familie und schreiben deshalb, indem sie sich sehen, miteinander telefonieren oder sich Mitteilungen senden, ihre »Familiengeschichte« weiter.

    Er legt die Karten beiseite und greift nach dem kleinen, roten Gummi, das er über den von ihm bereits gelesenen Stapel stülpt. Er legt ihn auf ein Regal und steht auf. Er ist jetzt sehr unruhig, mit einer solchen Entdeckung hatte er nicht gerechnet, im Augenblick weiß er nicht, was sie bedeutet.

    Er verlässt das kleine Kabinett und trifft in der Buchhandlung auf Katharina, die hinter der Theke hervorkommt und ihn anschaut.
    – Na? sagt sie, war es sehr schlimm?
    Er schüttelt den Kopf und muss plötzlich lächeln.
    – Hör auf damit, antwortet er, Du weißt selbst, dass es ganz wunderbare Texte sind. Ja, es sind wunderbare, einzigartige, druckreife Texte. Aber es sind ganz andere Texte, als ich mir vorgestellt hatte.
    – Inwiefern? fragt sie.
    – Es sind nicht nur Texte über Lektüren, sondern es sind Texte einer großen, berührenden, bis ins Mark gehenden Liebesgeschichte. Du hast hier begonnen, diese Geschichte in vielen kleinen Erzählungen aufzuschreiben. All diese Erzählungen handeln von Georg und Dir, von Eurem Zusammensein, Euren Reisen und Euren gemeinsamen
Lektüren, die anscheinend das Fundament Eurer Liebe waren.

    Sie schaut ihn an und schweigt. Er will weiter- und weitersprechen, da bemerkt er, dass sie zu Boden blickt. Er hört auf zu sprechen, er erkennt, wie erschüttert sie ist. Er geht auf sie zu und umarmt sie, und als sie in enger Umarmung zusammenstehen, spürt er, dass ihr die Tränen gekommen sind.

    Er sagt eine Weile nichts, all das, wovon er eben gelesen hat, ist nun mit großer Macht da, er glaubt eine Straßenszene in der französischen Provence zu sehen und einen verregneten Nachmittag in einem Hotelzimmer in Regensburg, all die Atmosphären dieser Szenen sind nun auch Teil seines Lebens.
    – Du hast ihn nicht vergessen können, sagt er, Du hast die ganze Zeit hier auf dieser Insel mit Deinen Erinnerungen an Georg verbracht. Sie sind wohl stärker und stärker geworden, und schließlich drängten sie sich so sehr auf, dass Du damit begonnen hast, sie aufzuschreiben.

    Sie löst sich langsam von ihm und holt ein kleines Paket Taschentücher aus einem Schubfach unterhalb der Theke. Sie schnäuzt sich mehrmals, dann lächelt sie wieder.
    – Entschuldige, sagt sie, aber was Du sagst, überrollt mich gerade ein wenig. Gleich wird es schon wieder gehen, ja, gleich wird es mir wieder besser gehen. Du erinnerst mich an etwas sehr Trauriges, aber natürlich freue ich mich auch über das, was Du jetzt sagst. Ich hatte ja selbst die ganze Zeit das Gefühl, dass ich eigentlich
Bruchstücke einer Liebesgeschichte aufschreibe, obwohl es auf den ersten Blick um ganz konkrete Lektüren ging.
    – Das Schreiben über Eure Lektüren hat Dir anscheinend geholfen, von Deiner großen Liebe zu erzählen, antwortet er. Auf direktem Weg hättest Du so etwas nicht gekonnt.
    – Ja, sagt sie, das ist ganz richtig. Ich habe mich nicht getraut, von unserem gemeinsamen Leben zu erzählen. Vielleicht war ich zu schamhaft, zu scheu oder zu vorsichtig, und außerdem hatte ich kein richtiges Thema, denn ich brauchte ein Thema, um nicht einfach über dies und das zu schreiben. Und außerdem fürchtete ich mich, lauter banales Zeug zu notieren. Die Lektüren aber waren kein banales Zeug, sondern ein Zeichen unserer Zusammengehörigkeit, ja, sie begründeten eine Art, wie soll ich es sagen, eine Art fortlaufenden Liebesstrom.

    Er denkt kurz über ihre Wendung vom »Liebesstrom« nach, weiß aber nicht genau, wie er sie verstehen soll. Er schweigt und überlegt, vielleicht hat sie Georg mithilfe der vielen Lektüren dazu gebracht, von seinen Empfindungen und Gefühlen zu erzählen. Sie ist eine kluge, zurückhaltende , aber bestimmte

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