Liebesnaehe
Mensch hat mir jemals etwas vorgelesen.« Das hörte sich bitter und enttäuscht an, auch ihm selbst muss das so vorgekommen sein, denn er versuchte sofort, diesen Eindruck vergessen zu machen, indem er lachend sagte: »Neinnein, mir hat niemand etwas vorgelesen, stattdessen habe ich meinen Künstlern oft die Leviten gelesen … – Du weißt, was ich meine.«
Ab und zu fingen sie auch an, über die vorgelesenen Texte zu sprechen, sie bemerkte dabei aber oft, dass ihm diese Gespräche nicht sehr behagten. Sie erklärt es sich jetzt damit, dass sie für solche Gespräche vielleicht noch zu jung war, denn vieles, was sie sagte, war für ihn wohl vorhersehbar, oder es ging zu wenig auf das ein, was ihn gerade beschäftigte. Jedenfalls waren solche Gespräche nach kurzem Anlauf zum Erliegen gekommen, und er erkundigte sich dann stattdessen nach ihren Arbeiten: »Erzähl mir davon, was Du vorhast, los, erzähl mir davon, das möchte ich hören!« Und in der Tat – wenn sie von ihren Ausstellungen und Projekten sprach, war sein Interesse viel reger, alle Details wollte er wissen, und meist hatte er gute Ideen, wie bestimmte technische Probleme zu lösen waren. »Du hast die Ideen, und ich bin der Handwerker, der weiß, wie man sie ausführt«, sagte er dann und entwarf Skizzen, wie man ihre Objekte in Ausstellungsräumen wirkungsvoll präsentieren konnte.
Etwa sechs Minuten lang ist der Herzschlag ihres Vaters zu hören. Kann man an diesem Herzschlag erkennen, dass der Mensch, der ihn hat, bald sterben wird? Bisher hat sie diese Frage noch keinem Arzt gestellt, sie traut sich einfach nicht. Sollte nämlich ein Arzt bestätigen, dass es der Herzschlag eines Schwerkranken ist, so würde sie sich vorwerfen, nicht rechtzeitig gehandelt und ihren Vater nicht zum Arzt geschickt zu haben. Der französische Künstler jedenfalls behauptete nach dem Hören dieses arhythmischen Schlagens nur, dass die Herzen aller Menschen auf jeweils einzigartige Weise schlügen und dass der Herzschlag seines Freundes Georg keineswegs
ungesund, sondern vielmehr »poetisch« klinge. »Poetisch wie das Singen von Walen oder Delfinen«, sagte er, und natürlich empfand Georg das als schmeichelhaft und dachte nun erst recht nicht daran, sich untersuchen zu lassen.
Sie öffnet die Augen wieder und schaut in den Himmel. Vor vielen Jahren war dieser französische Künstler noch vollkommen unbekannt und konnte nicht einmal den Aufbau seiner Ausstellungen bezahlen. Er drehte kleine Filme von seinen Erinnerungsprojekten und ließ sie in winzigen Pariser Kinos laufen. In eines dieser Kinos war Georg durch einen Zufall geraten, und genau dort sprach er den Künstler nach einer Aufführung seines Films an. Die beiden gingen später zusammen spazieren, Georg lud den Künstler zum Essen ein, und von diesem Tag an waren die beiden gute Freunde.
Merkwürdig, sie hat noch nie länger darüber nachgedacht, wie wichtig dieser Tag wohl für Georgs weiteres Leben gewesen sein muss. Ein Archiv von Kinderobjekten sehen – das entf lammte ihn damals so, dass er selbst begann, kleine Archive anzulegen. Diese Archive aber bezogen sich auf jene Erinnerungen, die er als beständig und bleibend empfand, und sie bezogen sich damit vor allem auf jene Stunden und Tage, die er gemeinsam mit seiner jüngsten Tochter verbrachte. »An das Leben davor erinnere ich mich kaum noch«, sagte er später einmal, »ich weiß nicht einmal mehr, an welchen Orten ich mit genau welchen Menschen zusammen war.«
Ein einziger Nachmittag in Paris war also vielleicht die Geburtsstunde seiner großen, späten Lebenssehnsucht, und diese Sehnsucht führte schließlich nach vielen Jahren dazu, dass er sich von seiner Familie trennte und ein neues Leben begann.
Ihr erscheint das plötzlich sehr klar, sie versteht seine Geschichte jetzt viel genauer. Sie liegt noch immer im Gras und starrt in den Himmel, und sie denkt darüber nach, wie stark auch sie selbst von diesen frühen Geschichten beeinflusst wurde. All ihre künstlerischen Arbeiten haben mit Erinnerungen zu tun, mit »Jules Archiv« hat es begonnen, später hat sie dann auch Archive fremder Personen angelegt, und heute entwirft sie künstliche Archive, die sie wie eine Regisseurin inszeniert und wie eine Schauspielerin präsentiert.
Im Grunde ist sie auf geradezu ideale Weise darauf vorbereitet, auch Johannes beim Aufbau eines Archivs zu helfen. Wenn sie ihn näher kennenlernt, wird sie mehr vom Leben und Sterben seiner Mutter
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