Liebesnaehe
arrangieren, er wird sich dafür aber Zeit lassen und sich vorher ausgiebig mit dem »Archiv seiner Kindheit« beschäftigen.
Er freut sich, morgen mit so vielen guten Projekten nach München zurückzukehren, die Blockade, mit der er in dieses Hotel gekommen war, ist längst überwunden. Blockaden entstehen anscheinend, wenn der Kontakt und die Nähe zu Themen und Dingen verlorengegangen sind, dann nämlich schreibt man ins Leere, und das Geschriebene hat keinerlei Verbindung mehr zu den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen. Sätze aufzuschreiben, die nicht durch die eigenen Gefühle gestützt und von ihnen getragen werden, führt nicht weiter. In solchen Notfällen ist es am besten, mit der Beschreibung der erstbesten Details zu beginnen, zu denen zumindest noch eine geringe Gefühlsbeziehung besteht.
Ohne es zu ahnen, hat er das während dieses Hotelaufenthaltes genau richtig gemacht. Wer ist diese Schwimmerin?
– eine so schlichte Frage fixierte sein Interesse an einem solchen Detail. Es bestand zunächst nur als Interesse an einigen farblichen Reizen und an gekonnter, gezielter Bewegung, dann aber vergrößerte es sich und entpuppte sich schließlich als gesteigertes Interesse an einem Körper und an einer Person, die er von da an nicht mehr aus den Augen verlor.
Er setzt sich an den Schreibtisch und notiert noch einige weitere Überlegungen, die ihm dazu durch den Kopf gehen. Er schreibt ruhig, aber rasch mit der Hand, den Laptop hat er vorher geschlossen und beiseitegestellt. Als er fertig ist, nimmt er zwei Zitronen aus der Schale mit Früchten und durchschneidet sie mit dem Obstmesser. Er drückt ihren Saft in die Karaffe mit frischem Wasser und schaut zu, wie der trübe Saft sich in kleinen Wolken und Schlieren in der glasklaren Flüssigkeit ausbreitet. Er trinkt aber noch nicht, sondern nimmt sich vor, zunächst das Zimmer aufzuräumen und bereits die Koffer und Taschen für den Aufbruch morgen früh zu packen.
Er geht ins Bad und räumt die dort liegen gelassenen Utensilien zusammen. Dann geht er in das große Zimmer und widmet sich dem Schreibtisch. Wenn er gleich hinunter ins Foyer und weiter ins Gartenhaus geht, möchte er ein fast leeres, komplett aufgeräumtes Zimmer zurücklassen, das so aussieht, als würde es nicht mehr benutzt. Er hat mit diesem Zimmer abgeschlossen, im Grunde ist er kein Hotelgast mehr, innerlich ist er bereits aus dem Hotel ausgezogen.
Als er mit den Aufräumarbeiten und dem Packen fertig ist, stehen sein Koffer, seine Reisetasche und die Kiste mit Unterlagen und Arbeitsgeräten im dunklen Eingangsbereich des Zimmers. Er trägt eine schwarze Hose, ein dünnes, weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und flache, leichte Schuhe. Er geht noch einmal ans Fenster und schaut lange hinaus. Der allmähliche Übergang des Abends zur Nacht, die Einschwärzung der Erde, die Vertiefung der Schatten, das Verschwinden der großen Volumina – er verfolgt diese unmerklichen Bewegungen und trinkt währenddessen das kühle Zitronenwasser. Die Frische des Wassers, die leichte Säure – ein Vorgeschmack der tiefen Nacht.
Schließlich schaut er sich noch einmal in dem großen Raum und im Bad um, dann verlässt er das Zimmer und geht ins Foyer. Das Foyer wirkt verlassen und still, nur eine einzige Frau steht hinter der Rezeption und ordnet Papiere, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. In den Restaurants wird längst gegessen, er hört jetzt das konstante Rumoren der Tischgesellschaften, von denen die meisten ihr letztes Menü genießen, bevor sie morgen früh wieder in alle Richtungen aufbrechen. Dann macht er sich auf den Weg ins Gartenhaus.
Als er die große Freifläche und die anschließenden Wiesen erreicht hat, sieht er, dass der kleine Raum anscheinend von Kerzen oder Öllampen erhellt wird, das Licht flackert jedenfalls so durch die Fenster, dass er eine solche Beleuchtung vermutet. Er geht entspannt auf das Haus zu und bemerkt, dass einige der Möbel draußen stehen. Der
Schreibtisch, der runde Esstisch und ein Korbsessel befinden sich jetzt rechts vom Gartenhaus und bilden dort eine fast rührende Trias. Die Tür des Hauses steht offen, er geht aber nicht sofort hinein, sondern bleibt im Eingang stehen, weil ihn der Anblick des Raumes verblüfft.
Das Zimmer hat sich stark verändert, es wirkt jetzt nicht mehr wie ein kleiner Wohnraum, sondern wie ein weiter, offener Raum, in dem sich kaum noch größere Gegenstände befinden. In seiner Mitte ist auf dem Boden eine Schlafstätte
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