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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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gegen die linke Schläfe, dann fragt sie mehrmals nach und lässt sich diese Zusammenhänge noch einmal erklären. Sie will das alles unbedingt zweimal hören, sie muss sich vergewissern, dass sie alles richtig verstanden hat. Katharina hat ihr Kennenlernen möglich gemacht – und danach? Danach ist das kleine Wunder geschehen.

    Als sie glaubt, genau verstanden zu haben, lehnt sie sich wieder etwas in ihrem Sessel zurück. Sie pustet kurz durch, sie streift sich mit der Rechten durchs Haar.
    – Ich werde einige Zeit brauchen, um die Ereignisse dieser Tage zu verstehen, sagt sie.
    – Nicht nur Du, wir alle werden einige Zeit brauchen, antwortet Katharina.
    – Ja, Du hast recht. Ich will Dir aber noch etwas anderes erzählen. Seit ich vorgestern hier eintraf, kommt mir immer wieder mein Atelier in den Sinn. Ich weiß nicht, warum ich gerade jetzt daran denke. Mein Atelier war früher ein Teil von Georgs Galerie, es waren mehrere Räume, die er irgendwann leer geräumt hatte, um sie für private Zwecke zu benutzen. Er ließ diese Räume dann aber leer stehen, und er beantwortete Fragen nach der Nutzung dieser Räume nicht. Wusstest Du davon?

    – Nicht die Details. Ich weiß natürlich, dass Deine Atelierräume früher Galerieräume waren, doch wie genau es zu dieser Verwandlung gekommen ist, weiß ich nicht.
    – Nun gut, dann pass auf, denn ich glaube inzwischen zu wissen, was damals, als Georg die Räume leer räumen ließ, geschah. Damit begann sein zweites Leben, ja, dieses zweite Leben begann damit, dass er sich einen leeren, freien Raum schuf, in dem er auf und ab ging, auf und ab …, immerzu … Als ihn seine Freunde drängten, die Räume wieder für die Galerie zu nutzen oder irgendetwas anderes Sinnvolles mit ihnen zu machen, weigerte er sich. Georg wollte nichts Sinnvolles mit ihnen anstellen, er wollte in diesen leeren Räumen nur auf und ab gehen, er wollte seine Freiheit genießen, und er wollte sein ganzes verschüttetes Innenleben entdecken, abseits von allen Geschäften und dem ganzen enervierenden Kunstbetrieb, den er früher noch mit großem Vergnügen selbst bevölkert und angeheizt hatte. Deshalb schuf er sich eine kleine, geschlossene Einsamkeits-Box, es war seine erste künstlerische Arbeit, verstehst Du, es war sein erstes eigenes Kunstprojekt: leere Räume, auf und ab gehen, eine private, vollkommen private Installation – so begann Georgs zweites Leben.

    Katharina schaut sie unentwegt an, sagt aber nichts. Erst nach einer langen Pause fragt sie:
    – Willst Du weitererzählen, Jule? Oder soll ich das für Dich tun?
    – Erzähl Du weiter, Katharina.
    – Die Einsamkeits-Box war sein erstes, heimliches Kunstprojekt. Der nächste Schritt aber war der, dieses
Kunstprojekt zu bevölkern und zu dokumentieren. Um das zu tun, brauchte Georg eine Partnerin oder einen Partner. Inzwischen wissen wir, wer das war. Seine schöne und gehorsame Tochter wurde seine Partnerin, sie hat sein zweites Leben gestaltet, und sie hat ihn langsam aus seinem früheren Leben herausgelotst.
    – Sagen wir es so, Katharina: Die schöne, gehorsame Tochter begleitete ihren Vater bei seinen Anstrengungen. Sie half ihm vielleicht etwas, ja, sie versuchte es. Um den entscheidenden, letzten Schritt in das neue Leben zu tun, bedurfte es aber noch einer anderen Partnerin, und diese andere Partnerin warst Du. Du hast ihm noch mehr geholfen, als ich es konnte, Du hast ihn dazu gebracht, dass er endlich von seinen Empfindungen und Erfahrungen sprach. Er erzählte mir davon, wie gut es ihm tat, sich mit Dir zu unterhalten. »Ich bin süchtig danach, mit ihr zu sprechen«, sagte er, und manchmal machte er darüber hinaus noch weitere Andeutungen darüber, was es mit diesen Gesprächen auf sich hatte.
    – Andeutungen? Welche Andeutungen?
    – Er vermutete, dass Du manche Eurer Gespräche aufzeichnen würdest.
    – Wie bitte? Wie ist er denn darauf gekommen?
    – Als er einmal für einen Moment allein in Deiner Buchhandlung war, ist er anscheinend zufällig auf einige dieser Aufzeichnungen gestoßen. Hat er Dir nicht davon erzählt?
    – Nein, niemals.
    – Er war sehr stolz darauf, dass Du die Gespräche aufzeichnest, diese Aufzeichnungen waren, glaube ich, sehr wichtig für ihn.

    – Wirklich? Waren sie das? Aber wieso?
    – Sie wurden für ihn mit der Zeit sogar zu einer fixen Idee. Er betrachtete sie …, wie soll ich sagen, er hielt sie für einen wichtigen Teil seines Kunstprojekts. Schließlich wollte er sogar mit ihnen

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