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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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arbeiten.
    – Arbeiten?! Aber wie denn, um Himmels willen?
    – Du weißt, der Herzinfarkt ereilte ihn kurz vor seinem Flug nach London. In London wollte er sich eine meiner Ausstellungen anschauen, und er wollte mit mir besprechen, wie man mit Deinen Aufzeichnungen arbeiten könne.
    – Er hatte bereits konkrete Pläne?
    – Er stellte sich vor, dass ich diese Aufzeichnungen in meine Projekte integriere, er wollte, dass ich mit ihnen künstlerisch arbeite und sie inszeniere.
    – Mit mir, Jule, hat er darüber nie gesprochen, nie, niemals, zu keinem Zeitpunkt.
    – Er wollte es erst mit mir besprechen, er war sich über das Projekt noch nicht richtig im Klaren.
    – Und Du? Hattest Du schon Ideen, wie man mit Texten, die Du ja gar nicht kanntest, hätte arbeiten können?
    – Nein, ich hatte natürlich keine konkreten Ideen. Ich muss die Texte erst lesen, dann kann ich mehr dazu sagen – das habe ich Georg mehrmals erklärt.
    – Und was hat er gesagt?
    – Er sagte, dass man die Texte erst noch überarbeiten müsse und dass er Dich bitten werde, sie für eine Überarbeitung zur Verfügung zu stellen. »Das sind keine flüchtigen Aufzeichnungen über irgendwelche Gespräche«, sagte er, »sondern es ist eine große Liebeserzählung
in vielen Episoden. Und genau eine solche Erzählung sollte man aus den Aufzeichnungen herausdestillieren.«
    – Aber wer hätte denn so etwas machen sollen?
    – Tja, hier lag das große Problem. »Es wird niemanden geben, dem Katharina diese Texte zur Überarbeitung anvertraut«, sagte er. Und dann meinte er noch, dass er selbst so etwas nicht könne und nicht die geringste Ahnung habe, wie man so etwas hinbekomme.
    – Und weiter?
    – Kurz vor seiner London-Reise schrieb er mir noch einen Brief, es ist der letzte, den ich von ihm erhielt. Und in diesem letzten Brief stand: »Jule, Du bist der einzige Mensch, der mir helfen kann. Wir müssen unbedingt jemanden finden, dem Katharina erlaubt, ihre Aufzeichnungen zu überarbeiten. Meine schöne, gehorsame Tochter, ich bitte Dich sehr um diesen großen Dienst.«

    Sie schauen einander sprachlos an, sie sitzen in der leeren Hotelbar und versuchen zu verstehen, was sie gerade herausgefunden haben. Draußen ist es still geworden, die Sport-Übertragungen sind längst vorüber. Das Sonnenlicht zieht sich langsam hinter die Berge zurück, nur noch spärliche Reste flackern draußen zwischen den orangefarbenen Sonnenschirmen.

    Nach einer Weile räuspert sich Katharina und sagt:
    – Ich habe meine Aufzeichnungen gestern Johannes zu lesen gegeben. Eben, vor kaum einer Stunde, hat er mir von sich aus gesagt, dass sie ihm gefallen und dass er sie überarbeiten möchte. Morgen früh wird er den ganzen Packen mit nach München nehmen.

    Jule schaut Katharina weiter regungslos an, dann sagt sie:
    – Das ist nicht wahr, Katharina, das hast Du Dir bloß ausgedacht, habe ich recht?
    – Nein, Jule, keineswegs, ausgedacht hat sich niemand von uns irgendetwas. Sich etwas auszudenken, war gar nicht nötig und auch nicht möglich. Unsere Geschichten haben sich von selbst geschrieben, ohne unser eigentliches Zutun, darin besteht das Wunder.

    Sie sitzen noch eine Weile still einander gegenüber, sie bemerkt, dass Katharina ins Grübeln geraten ist. Als sie eine leichte Kühle spürt, die durch eine offen stehende Tür in die Bar hineinweht, sagt sie:
    – Komm, Katharina, lass uns zusammen ins Gartenhaus gehen. Ich brauche noch jemanden, der mir etwas zur Hand geht.

    Sie stehen beide fast zugleich auf. Dann nehmen sie sich an der Hand und verlassen die Bar.

38
    ER STEHT am Fenster seines Hotelzimmers. Draußen wird es langsam dunkel, die Spitzen des Gebirgsmassivs ziehen sich hinter die dunkelgrünen Wälder zurück und verblassen, und das starke, monochrome Grün der welligen Wiesen löst sich in der Dämmerung auf und verschwimmt.

    Er denkt an die Lektüren, die er mit nach München bringen wird. Anfangen wird er mit Katharinas Aufzeichnungen, er wird sie mehrmals lesen, langsam und gründlich, und er wird sie später in kurze Bruchstücke zerlegen und diese Bruchstücke dann wieder zu einer fortlaufenden Erzählung zusammensetzen. Was Katharina dagegen über die Begegnungen mit ihm notierte, wird er zunächst separat lesen und später einmal auch Jule zu lesen geben. Vielleicht helfen ihm ihre Eindrücke, den Menschen, der er einmal gewesen sein soll, besser zu verstehen. Irgendwann wird er versuchen, auch diese Texte umzuschreiben und sie neu zu

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