Liebesnaehe
lauter werdenden, monotonen Rhythmen der Trommel.
Sie darf nicht zu schnell schwimmen, und sie muss versuchen, unter der Oberfläche dahinzugleiten, als würde sie zu einem lebendigen Organ des Buches, das sich in seinem Innern bewegt, um es zu erkunden. Sie zählt ihre Schwimmstöße und bemüht sich, vom Rand des Beckens zur gegenüberliegenden Seite auf immer die gleiche Zahl zu kommen. Während sie weiter und weiter schwimmt, memoriert sie einige Textpartien, sie fängt immer wieder von vorne an und memoriert sie in der gleichen Reihenfolge.
Schließlich bemerkt sie, wie das Sonnenlicht allmählich in die Szenerie bricht. Langsam ziehen die Nebelschwaden seitlich ab, nur der Kaminrauch bleibt noch eine konstante Säule, die wie schwerer Pfeifenrauch in die Luft
steigt. Das Sonnenlicht ist matt, es bringt die Cover-Farben zum Leuchten, in einer Stunde wird das alles vorbei sein, und das Licht wird alle Nuancen abtöten.
Sie schwimmt und zählt ihre Bahnen. Sie memoriert weiter den Text. Sie wartet darauf, dass er erscheint.
15
ER ERWACHT kurz vor sieben und steht, als er den leichten Sonnenglanz draußen vor den Fenstern bemerkt, sofort auf. Er fühlt sich frisch und unternehmungslustig, am liebsten würde er jetzt sofort nach draußen eilen. Soll er wirklich unten, im Frühstücksraum, mit Scharen anderer Hotelgäste frühstücken? Nein, auf keinen Fall, er frühstückt nicht gern in Gegenwart fremder Menschen, und außerdem mag er keine Frühstücksbüffetts, deren verzweigter Aufbau ja meist dazu führt, dass sich die Frühstückenden ununterbrochen durch den Raum bewegen und der Raum niemals zur Ruhe kommt.
Er geht ins Bad, putzt sich die Zähne, rasiert sich und duscht, dann zieht er den Bademantel über und geht an den Schreibtisch. Er schält sich zwei Äpfel und beginnt, sie langsam zu essen, das ist jetzt sein Frühstück, und das wird, wie er sich kennt, vorerst reichen. Er hat morgens selten Appetit, er braucht im Grunde nur ein wenig Obst
und später vor allem starken Kaffee und noch etwas später zwei, drei Gläser Wasser. Brot, Brötchen, Käse oder Wurst mag er dagegen frühmorgens überhaupt nicht, er versteht nicht, was daran verlockend sein soll, sich kurz nach dem Aufstehen mit solchen Müdmachern zu mästen.
Noch während er die Äpfel isst, schlägt er sein Notizbuch auf und liest in seinen Aufzeichnungen, er hat den gestrigen Abend damit verbracht, den ganzen Tag und dabei vor allem die Begegnungen mit Jule und Katharina zu protokollieren. Es erscheint ihm wichtig, alles bis ins kleinste Detail zu notieren, schließlich geht es darum, den Zusammenhang einer Geschichte zu erkunden.
Am frühen Abend hat er sich nach der Rückkehr von seinem Spaziergang noch für etwa eine Stunde mit Katharina in der Hotelbar zusammengesetzt. Er hat nicht erzählt, dass er Jule während seines Spaziergangs getroffen hat, er betrachtet dieses Treffen als eine geheime Sache, von der vorerst niemand etwas wissen soll. Überhaupt hat er versucht, das Private in dieser Unterhaltung nicht zu berühren, deshalb hat er sich nicht weiter nach Katharinas Mann erkundigt, und er hat es erst recht vermieden, auch einmal von sich selbst zu erzählen. Und so hatten sie sich wie in den Münchener Zeiten fast ausschließlich über Bücher unterhalten, er hatte sich weiter nach Katharinas Zettelkasten erkundigt und nach Titeln gefragt, die besonders häufig gelesen und zu positiven Rückmeldungen geführt hätten, und er hatte Katharina gebeten, sich auch für ihn eine Lektüre auszudenken, die ihn aufwühlen und eine starke emotionale Wirkung auslösen würde.
Als er seine Notizen durchblättert, erinnert er sich an die Nachricht, die Jule ihm gestern über das Handy geschickt hat. Instinktiv greift er danach und schaut, ob es etwa schon neue Nachrichten gibt. Ja, es gibt eine, Jule hat ihm eine zweite Nachricht geschickt, und diese zweite Nachricht setzt die gestern begonnene Geschichte anscheinend fort: the artist is present 2: im japanischen Badehaus auf dem Dach
Er zögert keinen Moment, sondern steht sofort auf, holt eine Badehose aus dem Kleiderschrank und streift sie über. Dann zieht er seine alten Turnschuhe an und macht sich im Bademantel auf den Weg zum Dach des Hotels. Ist der Pool zu dieser Zeit nicht geschlossen? Und wie könnte ausgerechnet dieser auf dem Dach und im Freien gelegene Pool der Ort einer erneuten Begegnung sein? Die Tür, die zum Badebereich führt, ist nicht zu, er öffnet sie
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