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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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gewichen, sein Kopf kommt zur Ruhe, und seine Hände haben nicht mehr das Geringste zu tun.

    Von Minute zu Minute wird die gegenseitige Anziehung stärker, das fühlt sich an wie ein innerer Austausch, als wanderte alles, was er zuvor nur für sich und bei sich gedacht und empfunden hatte, zu ihr hinüber und zeigte sich nun in aller Offenheit. Sie versteht mich, sie erkennt mich, denkt er plötzlich, ja, was sich hier gerade einstellt, ist ein großes Verständnis und mehr noch, es ist ein starkes Vertrauen, wir betrachten den anderen nicht mehr von außen, und wir beobachten ihn nicht mehr, das alles ist nicht mehr notwendig, denn Betrachtung und Beobachtung entfremden und entfernen uns nur voneinander. Das Vertrauen dagegen lässt uns zusammenkommen, er weiß, dass er jetzt ganz ähnlich wie sie empfindet und fühlt, das Abtasten, Suchen und Erproben ist anscheinend vorüber.

    Und nun beginnt es, die Anspannung fällt von ihm ab, und er spürt die Erleichterung. Es gibt keine Hindernisse und Umwege mehr, sie haben die Körper und Gedanken gerade getauscht, und er fühlt, wie seine zuletzt monatelange Einsamkeit endlich ein Ende gefunden hat. Sein sturer Kopf! Seine verdammte Beharrlichkeit! Langsam verwandeln sich diese nicht abgelegten, kindlichen Züge in etwas Liebenswertes, Hilfloses, und all die ewigen Anstrengungen um den Erhalt der Vorstellungen, die er sich von seinem Leben gemacht hat, verlieren ihre Sonderbarkeit und Dramatik.

    Dasitzen, still sitzen.

    Ihm fällt ein, dass viele Teilnehmer an der Performance im New Yorker Museum während ihres stummen Sitzens in Tränen ausgebrochen sind, das kann er jetzt gut verstehen. Auch er ist jetzt den Tränen nahe, aber es sind keine Tränen der Trauer oder irgendeines anderen Schmerzes, es sind Tränen der Freude darüber, endlich erkannt und gesehen zu werden.

    Sie erkennt mich! Sie sieht mich! Sie wendet den Blick nicht von mir ab!

    Er spürt, wie sein Gesicht sich entspannt, er kann den Anflug eines Lächelns nun nicht mehr vermeiden. Auch in ihrem Gesicht nimmt er diese Gelöstheit wahr und dazu eine unglaubliche Freude. Auf welch schöne Weise sie zueinander gefunden haben! Und wie nah sie nun einander sind!

    Sein Atem! Sein Herzklopfen! Er horcht in sich hinein, und plötzlich öffnet sich in ihm etwas, und in dem geöffneten, weiten Raum wird es heller, und die Töne einer Bambusflöte besetzen und lichten das Dunkel und erkunden es langsam.

2
Die Nähe
    Was fern, doch nah ist
Der Abstand zwischen Mann und Frau
    (Aus dem »Kopfkissenbuch« der Hofdame Sei Shonagon)

14
    SIE ERWACHT kurz vor sechs Uhr in der Frühe, sie bleibt noch einige Minuten in ihrem Bett und geht im Kopf schon einmal die weiteren Arbeitsabläufe ihres Projekts durch, mit dem sie gleich beginnen will. Sie ist ruhig und hat gut geschlafen, darüber ist sie ein wenig erstaunt, weil sie sonst vor dem Beginn eines Projektes in eine starke Unruhe gerät und mit lauter Zweifeln zu kämpfen hat. Diesmal aber ist sie ganz sicher, wie sie das Ganze anpacken wird, den gestrigen Abend hat sie nach ihrem langen Spaziergang allein in ihrem Zimmer verbracht und nichts anderes getan, als alte japanische Musik zu hören und die einzelnen Arbeitsschritte handschriftlich genau zu fixieren. Es geht um die »Kopfkissenbuch« -Performance, es geht darum, das »Kopfkissenbuch« zu inszenieren.

    Sie steht auf und geht gleich ins Bad. Während sie sich die Zähne putzt, schaut sie ununterbrochen in den Spiegel. Sie beugt den Oberkörper vornüber und hält ihren Kopf unter einen Strahl lauwarmes Wasser. Dann schwingt sie zurück, sie steht jetzt aufrecht und gerade da und beginnt, ihre nassen Haare kräftig nach hinten zu bürsten. Ihre Haare sollen eng und glatt anliegen, nach einigen
Minuten ist das geschafft, ihre Haare wirken jetzt streng und sachlich, sie cremt nun ihr Gesicht ein und verstärkt die Linien der Augenbrauen mit einem Stift.

    Dann geht sie zurück in das Zimmer und entnimmt einem Koffer einen einteiligen roten Badeanzug, auf dessen Vorderseite einige asiatische Schriftzeichen zu erkennen sind. Sie zieht den Badeanzug an und tritt kurz vor den Spiegel, sie schaut sich in die Augen, sie blickt starr und konzentriert, bis auch die letzten Spuren einer Emotion getilgt sind. Kein Lächeln, keine Hingabe, keine Selbstbeobachtung – dieses Ritual verlangt das völlige Fehlen jeder äußeren Regung.

    Sie zieht sich einen schwarzen Morgenmantel über, der vorn und hinten, etwa auf

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