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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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fremden Menschen unterhalten, und das ganze, schöne Nachdenken, das so gut in Bewegung gekommen ist, wäre dahin. Je mehr er sich aber dem Sitzplatz nähert, umso unsicherer wird er. Mal blickt er starr auf den Boden, mal wieder zum Horizont, er verkrampft, ja, es ist lächerlich, aber er verkrampft wirklich angesichts eines allein dasitzenden Menschen. Er korrigiert sich, nun gut, er wird den Fremden rasch grüßen und die Sache hinter sich bringen. Als er nur noch wenige Meter entfernt ist, schaut er kurz auf.

    Als er Jule Danner erkennt, bleibt er sofort stehen. Sie sitzt auf einem groben Holzstuhl, ihr gegenüber befindet sich ein weiterer Stuhl und dazwischen ein rechteckiger Tisch, es sieht beinahe so aus, als habe sie dieses Ensemble
entworfen, um sich hier, in völliger Natureinsamkeit, genau mit ihm zu treffen.

    Daneben erlebt er dieses Ensemble aber auch als ein Bild, ja, dieses Bild kennt er, und als er weiter dasteht und es länger betrachtet, fällt ihm die Ausstellung einer Performance-Künstlerin im New Yorker Museum of Modern Art ein, Fotos von dieser Performance waren in vielen Zeitungen, einige dieser Artikel hat er sogar ausgeschnitten und sie später Katharina gezeigt. Während eines Mittagessens, ja, er erinnert sich jetzt genau, während eines Mittagessens haben sie sich über diese Performance länger unterhalten. Die Künstlerin hatte oft bis zu neun Stunden ununterbrochen auf ihrem Sitzplatz verbracht, und ihr gegenüber hatte jeweils eine Fremde oder ein Fremder Platz genommen, um sie stumm zu betrachten und von ihr stumm betrachtet zu werden.

    Das alles geht ihm nun durch den Kopf, während er weiter Jule Danner anstarrt. Sie hat ihn nun auch bemerkt, sie schaut von ihrer Lektüre auf. Sie bewegen sich beide nicht, und keiner von ihnen sagt ein einziges Wort. Kein Wort, keine Silbe! – solche kurzen Befehlsworte glaubt er zu hören, während er darüber nachdenkt, ob er einfach weitergehen oder Platz nehmen soll. Weitergehen?! Platz nehmen?! Nein, das ist doch keine wirkliche Alternative, natürlich wird er Platz nehmen, das hier ist anscheinend eine Performance, und diese Performance hat den Titel the artist is present , und die kurze Nachricht auf seinem Handy war offensichtlich eine Einladung zu genau dieser Performance.

    Während er sehr langsam auf den leeren Stuhl zugeht, sieht er, dass Jule Danner ihr Buch beiseitelegt, sie legt es auf den Boden und setzt sich dann sehr gerade und aufrecht hin, dann legt sie beide Hände in geringem Abstand flach auf den Tisch, auch diese Gestik erinnert ihn stark an die New Yorker Performance.

    Er stellt sich vor den freien Stuhl und nimmt Platz, er lässt sie nicht aus den Augen und legt nun ebenfalls beide Hände in geringem Abstand flach auf den Tisch. Sie schauen sich an, sie blicken einander fest in die Augen, und er spürt, wie sich seine Lippen vor lauter Anspannung einen kleinen Spalt öffnen. Auch ihre Lippen stehen einen kleinen Spalt offen, sie hat kräftige, weit ausschwingende Lippen, das Rot eines Lippenstiftes ist schwach zu erkennen. Ihre blonden Haare sind anscheinend während des Spaziergangs durcheinandergeraten, eine Frisur jedenfalls kann man das, was er jetzt wahrnimmt, nicht nennen, die Frisur hat sich vielmehr aufgelöst, und ihre Haare haben sich vollkommen befreit und bilden einen lebendigen, nicht durchschaubaren Wirrwarr, der zum Teil tief in die Stirn hängt. Ihre Haut mit den winzigen Sommersprossen unterhalb der Augen erscheint frisch, wie lackiert, dieser Glanz verleiht dem Gesicht etwas Festes, Porträtartiges, am stärksten aber wirken auf ihn jetzt ihre dichten, ins Rötliche gehenden Augenbrauen, zwei leichte, markante, halbrunde Linien, die ihre Augenhöhlen zurücktreten lassen.

    Was für ein schöner, freier Kopf! Er spürt die Versuchung, zu lächeln, aber er kämpft gleich dagegen an, er möchte
noch keine Reaktionen zeigen, und ein Lächeln würde vielleicht alles verderben und eine voreilige Gegenreaktion ähnlicher Art hervorrufen. Das aber möchte er unbedingt vermeiden, er möchte vielmehr, solange es irgend geht, regungslos bleiben und beobachten, was sich mit ihnen beiden tut.

    Er schaut ruhig, und er spürt, dass sich die Umgebung jetzt weitet, ja, er hat allmählich den Eindruck, dass die nahen Wälder und die Gebirgsformationen zurücktreten. Gleichzeitig spürt er eine fließende Leichtigkeit und Wärme, sein Nachdenken ist jetzt zum Stillstand gekommen und einer puren Körperempfindung

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