Liebesnaehe
langsam und neugierig und schleicht dann hinein. Kurz bevor er den Pool erreicht, bleibt er stehen und versucht zu begreifen, was er da gerade sieht.
Auf dem Wasser zittert das Bild eines Buchcovers wie eine dünne, durchsichtige Folie, die man leicht abziehen könnte. Unter diesem Bild aber gleitet ein lang gestreckter, roter, schwimmender Leib langsam hin und her. Erst bei nochmaligem und genauerem Hinschauen begreift er, dass es Jule ist, die nur am Beckenrand zum Luftholen kommt, die übrige Strecke aber taucht. Ihre Bewegungen sind wieder so locker und lässig wie am Tag zuvor, jetzt aber sind sie offensichtlich auch Teil eines größeren Bildes und eines Zusammenhangs, den er noch nicht versteht.
Was ihm weiterhilft, ist das Cover, er begreift, dass es sich bei dem Buch anscheinend um das »Kopfkissenbuch« handelt, er hat dieses Buch selbst einmal gelesen, es besteht, wie er genau weiß, aus den Aufzeichnungen einer Hofdame am japanischen Kaiserhof, die in kurzen Meditationen von ihren Empfindungen und Stimmungen spricht.
»Was Herzklopfen verursacht« – an Überschriften dieser Art kann er sich sogar noch erinnern, aber auch daran, wie solche Fragen dann mit Hilfe kleiner Listen umkreist und beantwortet wurden. Was verursachte zum Beispiel Herzklopfen? War es nicht das Alleinsein in einem Raum voller Weihrauch? Oder das Warten auf den Geliebten zu nächtlicher Stunde?
Mit einem Mal wird ihm nun klar, dass er am Tag zuvor etwas Wichtiges übersehen hat. »Warum ich gerne schwimme« – hatte Jule so nicht gestern den Notizzettel überschrieben, den er in der Hotelbar vorgefunden hatte? Er stutzt einen Moment, dann aber begreift er, dass sie diese Notizen wohl ganz im Ton und Stil des »Kopfkissenbuches« geschrieben hat, ja, natürlich, schon gestern hätte er darauf kommen können, ihm sind die starken Parallelen aber nicht aufgefallen.
Das »Kopfkissenbuch« muss eine der Lektüren sein, mit denen sie sich momentan beschäftigt, vielleicht hat Katharina ihr dieses Buch geschenkt, um herauszubekommen, wie sie auf die Atmosphären und Tonlagen dieser Aufzeichnungen reagiert. Noch an diesem Vormittag
wird er Katharina in ihrer Buchhandlung aufsuchen, vielleicht hat sie das »Kopfkissenbuch« ja sogar vorrätig, dann könnte er es noch einmal lesen.
Er steht weiter still und versucht, die Inszenierung genauer zu begreifen. Der regelmäßige, hypnotisierend wirkende Trommelschlag, die gazeartige Wasseroberfläche mit den letzten Resten kleiner Nebelschwaden, der in den blauen Himmel steigende Kaminrauch, die Video-Kamera, die das alles anscheinend aufzeichnet – wahrscheinlich handelt es sich um eine Inszenierung. Wenn das aber stimmt, worin besteht seine Rolle in diesem schwer durchschaubaren Spiel?
Sie hat ihn eingeladen, hinaufzukommen, ja, sie hat ihn zur Teilnahme eingeladen, worin aber könnte diese Teilnahme bestehen, wenn nicht darin, ebenfalls in diesen Pool zu springen und ebenfalls einige Bahnen zu schwimmen?
Er zählt die Stöße, die sie von einem Rand des Beckens zum anderen macht, und als er auf immer dieselbe Zahl kommt, wartet er, bis sie wieder am gegenüberliegenden Beckenrand angekommen ist. Als sie anschlägt und wendet, springt er kopfüber ins Wasser, er versucht, genau in ihrem Tempo zu schwimmen, ja, sie gleiten nun dicht nebeneinander durch den Pool. Als er die andere Seite erreicht hat, schaut er sich kurz nach ihr um und bemerkt, dass auch sie sich kurz nach ihm umschaut. Anscheinend hat er begriffen und tut nun genau das, was sie von ihm erwartet.
Während er langsam und stetig weiterschwimmt und auf ihren Schwimmrhythmus achtet, überfällt ihn der Gedanke, dass er gerade dabei ist, zu ihrem Geliebten zu werden. Ja, so könnte man es verstehen, er wird ihr Geliebter, er ist der Geliebte des »Kopfkissenbuchs«, er ist der, auf den sie voller Herzklopfen wartet. Der Gedanke macht ihn euphorisch, er ist gespannt darauf, was an diesem Tag noch alles geschehen wird. Momentan hat sie die Regie übernommen, und er ist nur ein Teil in den Inszenierungen, die sie entwirft. Er wird versuchen, seine Rolle stärker selbst zu gestalten, das Ganze könnte eine faszinierende Geschichte der kleinen Anspielungen, Hinweise und Wegfindungen werden.
Nach etwa zehn Minuten gemeinsamen Schwimmens bemerkt er, dass sie das Becken verlässt. Sie tritt vor die Kamera, reibt sich mit einem Handtuch trocken, streift den auf dem Boden liegenden schwarzen Morgenmantel über und zieht die
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