Liebesparadies im Alpenschnee
bewahren.“
Er drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich zum Gehen. Es versetzte ihr einen Stich, dass er so verletzt war, und sie rannte ihm nach.
„Bitte geh noch nicht. Bitte …“
Er blieb stehen. „Wir sind beide erschöpft, Crystal.“
Ja, das stimmte. Auch ihm sah sie es nun an. Offenbar wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann besann er sich. „Ich wünsche dir eine erholsame Nacht. Wir können morgen weitersprechen, falls du wissen möchtest, worunter dein Sohn leidet.“
Sie hielt sich am Türrahmen fest. „Warum hat er mir nichts davon gesagt?“
Raoul stand schon am Treppenabsatz. „Ganz einfach: Er liebt dich zu sehr, er möchte dich nicht verletzen. Wenn er das täte, würde seine Welt vollends zusammenbrechen. Weißt du, was ich denke? Du solltest aufhören, ihn für etwas zu bestrafen, für das er überhaupt nichts kann.“
Noch lange, nachdem er fort war, stand Crystal noch immer an der geöffneten Tür. Raouls Bemerkung hatte sie bis ins Mark getroffen und sie mit der Wahrheit konfrontiert. Sie hatte sich schuldig gefühlt, weil sie Eric nicht mehr liebte, und sich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Was das für ihren Sohn bedeutete, erkannte sie erst jetzt.
Philippe war stolz, dass er in die zweite Klasse gehen durfte, denn eigentlich gehörte er ja noch in die erste. Schon aus dem Grund würde er sich Mühe geben, den Schultag durchzuhalten.
Crystal stand neben Raoul an der offenen Tür, als ob sie seine Eltern wären. Eigentlich hätte Eric jetzt hier mit ihr stehen müssen. Doch das Schicksal hatte es anders bestimmt.
Ihre Augen wurden feucht, als die Lehrerin Philippe in der Klasse willkommen hieß. Nachdem sie ihn den anderen Kindern vorgestellt hatte, schaute er sich nach ihr und Raoul um, lächelte und winkte ihnen zu.
Seitdem sein Onkel nach Breckenridge gekommen war, hatte er häufiger gelächelt als im ganzen Jahr zuvor.
„Lass uns gehen, bevor ich in Tränen ausbreche“, sagte sie. „Ich fühle mich wieder wie an seinem ersten Schultag.“
„Es ist ja auch sein erster an einer französischen Schule“, sagte Raoul, als sie draußen waren. „Komm, wir fahren zu mir und frühstücken. Dabei können wir reden.“
Draußen umfasste er ihren Arm, damit sie im Schnee nicht ausrutschte. Das war eine unwillkürliche Geste, aber seine Berührung übte eine so starke Wirkung auf sie aus, dass Crystal sich zwingen musste, an etwas anderes zu denken.
Raouls Chalet in Les Pècles war kleiner und moderner als das seiner Eltern, aber nicht weniger komfortabel. Als seine Schwägerin hatte sie ihn hier oft besucht. Doch diesmal hatte sie geradezu Angst davor, mit ihm allein zu sein.
Noch nie hatte er irgendetwas getan, das ihr unangenehm war. Und trotzdem war sie regelrecht gelähmt in seiner Anwesenheit. Zum ersten Mal hatte die Angst vor seiner Nähe sie einen Monat vor Erics Tod überfallen. Sie konnte sich noch genau an die Situation erinnern.
Philippe hatte auf seinen Vater gewartet. Doch Eric war nicht gekommen, wahrscheinlich weil er wieder einmal die Verabredung mit seinem Sohn vergessen hatte.
Schimpfend und weinend hatte der Junge versucht, ihr mit seinem kleinen roten Fahrrad aus der Wohnung zu entwischen, um nach seinem Vater zu suchen. Zufällig war Raoul vorbeigekommen und Zeuge des Unglücks geworden. Als er tröstend den Arm um sie legte, überfielen sie urplötzlich Gefühle, die absolut nicht geschwisterlich, aber so stark und eindeutig waren, dass ihr fast die Sinne schwanden.
Von dieser Erkenntnis getroffen, wurde sie regelrecht krank vor Schuld und Scham. Noch Tage später plagten sie entsetzliche Kopfschmerzen.
Als einzige Lösung, ihren beängstigenden Gefühlen für Raoul zu entkommen, war ihr der Umzug ihrer kleinen Familie nach Breckenridge eingefallen. Sie lag Eric damit tage- und wochenlang in den Ohren. Sie schlug andere Orte in Europa vor, wo er einen Teil des Jahres trainieren konnte. Doch sosehr sie ihn auch bat und zu überzeugen versuchte, Eric wollte von einem Umzug nichts wissen.
Nach seinem Tod wollte sie sofort nach Colorado entfliehen, aber die Familie hielt sie zurück. Die Broussards brauchten sie und Philippe, und sie brauchten die Broussards. Philippe hing wie eine Klette an seinem Onkel. Doch Raoul war nicht Philippes Vater.
Außerdem hatte er damals begonnen, wieder unter Menschen zu gehen. Er traf sich mit Frauen, und eines Tages hätte er sich wieder verliebt und geheiratet. Was wäre aus Philippe geworden,
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