Liebesparadies im Alpenschnee
Sohn ahnte nicht, wie alarmiert sie wegen Raouls Abwesenheit war.
Das, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte, war eingetreten. Seit Donnerstagnacht hatte niemand mehr etwas von Raoul gehört. Jetzt war es Samstagnachmittag. Die Familie schien das noch nicht zu beunruhigen, offenbar kam so etwas gelegentlich vor – unter Bergsteigern war man an den Umgang mit Notfällen gewöhnt. Doch ihr Sohn verstand es nicht, und Crystal fühlte sich krank vor Angst, Raoul könnte etwas zugestoßen sein.
Es war schon schwierig gewesen, Philippe zu überreden, sich ins Auto zu setzen. Er wollte zu Hause auf seinen Onkel warten. Und nun sträubte er sich, vor der Schule auszusteigen.
„Liebling. Du kannst doch Albert und deine Klassenkameraden jetzt nicht im Stich lassen. Auch deine Lehrerin wäre sehr enttäuscht.“
Er senkte den Kopf und schwieg.
„Onkel Bernard möchte euch filmen, wenn ihr singt, damit Onkel Raoul sich später den Film ansehen kann.“
„Aber wenn er auch gestorben ist wie Daddy?“ Er sah sie mit scharfem Blick an.
Niemand verstand seine Angst besser als sie. Und unbegründet war sie wirklich nicht. Suzanne und Eric, beide waren in den Bergen verunglückt.
„Das ist nicht passiert“, sagte sie fest. Nein, so grausam durfte das Schicksal nicht sein. „Es ist sein Beruf, anderen zu helfen. Kopf hoch, Philippe. Er kommt, sobald er kann. Heute ist doch ein besonderer Tag. Ich habe mich so darauf gefreut. Und nach der Aufführung kannst du den Rest des Tages mit Albert spielen.“
Der Parkplatz hatte sich gefüllt. „Nun komm schon, Schatz! Erkennst du das Auto von grand-mere und das von Tante Vivige? Die ganze Familie ist schon da. Wir müssen uns beeilen, damit du rechtzeitig umgezogen bist.“
„Aber ich kann Onkel Raouls Auto nicht sehen.“
„Wenn wir jetzt hineingehen und du dich in einen Engel verwandelt hast, rufe ich Onkel Raoul an. Vielleicht nimmt er ja ab.“
Offenbar waren das endlich die richtigen Worte gewesen, denn ihr Sohn stieg aus.
Doch er ging so langsam, dass Crystal schon befürchtete, sie kämen zu spät.
Im Klassenzimmer herrschte Aufregung. Man merkte den Kindern das Lampenfieber an. Angestrengte Mütter und Väter halfen ihren Kindern beim Umziehen. Überall lagen Jacken, Mützen und Schals herum. Doch jedes Kind wusste, wo es sein Kostüm fand, nämlich über dem Stuhl, auf dem es im Unterricht saß. Die Lehrerin hatte alles bereitgelegt. Die weißgoldenen Kittel und die goldenen Lichtkronen. Niedlich sahen die Kinder damit aus. Aber ihr Sohn wollte auch als Engel verkleidet nicht strahlen.
„Hast du ihn angerufen?“
„Ja, aber er ist nicht rangegangen. Wir müssen abwarten.“
Vivige warf Crystal einen verständnisvollen Blick zu und legte Philippe die Hand auf die Schulter. „Albert ist froh, dass du mitsingst, Philippe. Er ist schrecklich aufgeregt.“
„Attention!“ Die Lehrerin bat die Eltern, den Klassenraum zu verlassen und in der Aula Platz zu nehmen.
„Ich möchte nicht singen.“ Philippes Unterlippe zitterte, er begann zu weinen.
Crystal wollte ihn nicht zwingen. Er steckte voller Angst um Raoul. Sie ging in die Hocke und wischte ihm die Tränen fort. „Na gut, Liebling. Du musst nicht, wenn du nicht magst. Willst du lieber mit mir in die Aula kommen und den anderen zuhören?“
„Ja“, schluchzte er.
„Gut, dann kannst du wenigstens sehen, wie Fleur und Lise mit ihren Klassen auftreten.“
Die Lehrerin hatte das Drama beobachtet und nickte Crystal zu. Mit Philippe an der Hand folgte sie Vivige nach draußen. Vor der Klassenzimmertür wartete Raoul.
Philippe stieß einen Schrei aus und warf sich in die Arme seines Onkels. „Du bist zurück, du bist zurück“, rief er. Es war mehr als eine Szene der Wiedersehensfreude zwischen Onkel und Neffe, was sich da abspielte. Philippe hatte die größten Ängste ausgestanden, seit Raoul zu der Rettungsaktion aufgebrochen war. Der Junge war noch immer traumatisiert vom Tod seines Vaters.
„Der Kleine ist ja ganz verrückt nach seinem Vater“, sagte eine Mutter im Vorbeigehen und lächelte Crystal an. „Ein schönes Gespann, die beiden. Sie können sehr glücklich sein.“
Crystal wusste nicht, ob sie über diese Bemerkung lachen oder weinen sollte. Aber in gewisser Weise hatte die Frau recht. Wenn jemand seit dessen Geburt immer für ihren Sohn da gewesen war, dann war es Raoul und nicht Eric. Im Lauf der Zeit war er die wichtigere Bezugsperson geworden.
„So, Philippe, nun ab zu
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