Liebesschmarrn und Erdbeerblues: Roman (German Edition)
angesehen. Es war wie ein Stempel, der mir mit Mamas Tod aufgedrückt worden war. Ich hatte diese Blicke gehasst und alles getan, um nicht auf dieses Halbwaisentum reduziert zu werden. Dabei überschätzte ich mich wohl ab und zu etwas.
Wie bei einem Wanderausflug in der zweiten Klasse. Bei dem Versuch, für meine Freundin Wasser aus einem Bach zu holen, purzelte ich einen Abhang hinunter und konnte mich gerade noch an einer kleinen Tanne festhalten, um nicht weiter abzurutschen und in eine Schlucht zu stürzen. Die Lehrer hatten ihre liebe Not, mich da wieder heil hochzuholen.
Mit zweistündiger Verspätung kamen wir in einem Ausflugslokal an. Nur um festzustellen, dass unser vorbestelltes Essen inzwischen an andere Gäste ausgegeben worden war. Ich rutschte noch ein zweites Mal an diesem Tag. Und zwar ziemlich weit nach unten auf der Beliebtheitsskala meiner Mitschüler, die alle mit hungrigen Mägen den Rückweg zum Bus antreten mussten.
Ein Jahr später hatten wir mit der Schulklasse den Münchner Tierpark besucht. Ausgerechnet an diesem Tag war eines der Mandrilläffchen ausgebrochen. Das süße, schnuckelige Tier kam geradewegs auf mich zugerannt. Mutig wollte ich den kleinen Ausreißer aufhalten, doch da biss mich das hinterhältige Biest in den Finger. Meine Lehrerin bestand auf einen sofortigen Arztbesuch, und wieder hatte ich meinen Klassenkameraden einen Ausflug verpatzt.
Die Skitage in Österreich wurden ebenfalls zu einem unvergesslichen Erlebnis für mich und die ganze sechste Klasse. Noch heute war ich überzeugt davon, dass die Aushilfslehrerin Frau Stark dafür verantwortlich war, indem sie mir eine falsche Anweisung gegeben hatte. Ich hatte nämlich ganz brav die Flasche Kirschsaft zum Kinderpunsch geschüttet, den wir in unseren Thermoskannen für eine nächtliche Winterwanderung dabeihatten. Genau so, wie Frau Stark es gesagt hatte. Der Punsch hatte lecker geschmeckt. Wir hatten Spaß wie nie. Bis einige Kinder sich plötzlich übergeben mussten. Hinterher hieß es, ich hätte den Kirschlikör absichtlich hineingeschüttet. Aber ich schwöre, dass ich dachte, es sei Saft.
Sonst war da nichts mehr gewesen, na ja, bis auf das fünfundzwanzigjährige Jubiläum unseres Bürgermeisters. Papa hatte mir für diesen Tag ein besonderes Kleid gekauft. Es war rosa mit weißen Tupfen, und dazu gab es ein passendes Haarband. Kurz vor der Rede unseres Gemeindeoberhaupts hatte ich mich zu den Pferden des Vierspänners geschlichen, mit dem der Bürgermeister und seine Frau vorgefahren waren.
Ohne dass es jemand bemerkte, setzte ich mich auf den Kutschbock und nahm die Zügel in die Hand. Der Kutscher hatte vergessen, die Bremse zu ziehen, und bevor ich wusste, wie mir geschah, rannten die Pferde los. Das halbe Dorf war hinter mir her gewesen, bis die Kutsche endlich gestoppt war. Anstatt mich zu schimpfen, hatte Papa mich nur ganz fest an sich gedrückt und war mit mir nach Hause gegangen. Der Zeitungsartikel mit dem Absatz über meine wilde Fahrt klebte seitdem in unserem Fotoalbum.
So wie es aussah, schien ich tatsächlich ein Talent zu haben, die Leute auf unterschiedliche Weise mitzureißen und auch zu unterhalten. Und laut Claudia und Matthias war ich sehr foto- und telegen. Ich kam bei den Leuten an.
Doch natürlich wuchs mit meiner Beliebtheit auch die Zahl der Neider und Verständnislosen, die mit mir und meiner Behauptung gar nichts anfangen konnten und mich sogar offen anfeindeten. Allen voran mein Spezialfeind Karl Huber, der keine Gelegenheit ausließ, über mich zu wettern. In den Medien wurden wir inzwischen wenig schmeichelhaft, aber zur Erheiterung aller als Mamsen und Moosbummerl tituliert. Begegnet waren wir uns seit dem Radioauftritt nicht mehr. Und das war auch gut so.
Es war Samstagabend, und ich stand im kleinen Badezimmer und tuschte sorgfältig meine Wimpern. Dann zog ich mit einem hellrosa Lipgloss die Lippen nach und lächelte mir zufrieden im Spiegel zu. Meine Haare waren asymmetrisch zu einer lockeren Frisur hochgesteckt, ein paar vereinzelte Locken umspielten meine Wangen.
Ich hatte gute Laune, die von mitreißender Musik aus dem kleinen Radiogerät noch angeheizt wurde. Mit mehr Inbrunst als musikalischem Talent trällerte ich zusammen mit Bruce Springsteen: »Everybody’s got a hungry heart …«
Wie recht er doch hatte, der gute alte Bruce: Jeder hatte ein hungriges Herz. Auch ich hatte Hunger nach einer neuen Liebe, allerdings auch Angst, mir damit gleich wieder den
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