Liebessterne ueber Nizza

„Woher hat er die Narben?“
    Zu spät! Sie hatte nicht nachgedacht, jetzt wusste Avril, wie nah sie sich wirklich gekommen waren.
    „Hat er es dir nicht gesagt?“, fragte die ältere Dame, ein wenig zugeknöpft.
    „Nur, dass sie von einem Hundebiss stammen.“ Sienna hatte beschlossen, mit offenen Karten zu spielen. „Und er sagte, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sei.“
    „Nämlich spät abends auf einem bewachten Firmengelände.“
    „Conan?“, fragte Sienna erstaunt. Hatte Avril gemeint, dass sie ihn verloren hatte, weil er so ein Rabauke gewesen war?
    „Es ist nicht so, wie du glaubst“, erwiderte Avril, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Er ist damals hinter Niall hergelaufen. Obwohl er ihn mehrmals gewarnt hatte, was alles passieren könnte, ist Niall natürlich doch über den Zaun geklettert. Denn der Junge musste sein Leben lang immer das tun, was waghalsig, gefährlich und verboten war …“
    Was letztendlich auch zu seinem tödlichen Unfall geführt hat, dachte Sienna, und die brüchige Stimme ihrer Schwiegermutter verriet, dass sie der gleichen Meinung war.
    „Er wollte einfach nicht hören“, fuhr die ältere Frau fort. „Er war zwölf, Conan sechzehn, aber Niall musste unbedingt die Autorität seines großen Bruders infrage stellen. Und dabei hätte er beinahe dessen Leben aufs Spiel gesetzt. Als Conan nämlich das Hundegebell und Nialls Schreie hörte, dachte er nicht einen Moment an seine eigene Haut, sondern sprang über den Zaun, um seinen Bruder zu retten. Einer der Hunde stand vor Niall, aber der andere …“
    Avril konnte nicht weitersprechen, aber Sienna sah die Szene deutlich vor Augen.
    Kein Wunder also, dass Conan so … verkrampft gewesen war, als Shadow ihn bei seinem ersten Besuch in ihrem Haus angesprungen hatte. Und es erklärte auch, warum er so wütend geworden war, als ihre Nachbarin gesagt hatte, sie hätte Daisy mit dem Hund allein gelassen.
    „Ein paar Tage lang musste er im Krankenhaus bleiben“, fuhr Avril fort. „Die beiden Jungen bekamen lediglich eine Verwarnung, da sie sich zuvor noch nie etwas hatten zuschulden kommen lassen und mein Mann so ein angesehenes Mitglied der Gemeinde war.“
    „Aber Conan ist relativ unbeschadet davongekommen“, betonte Sienna. „Es hätte weit schlimmer ausgehen können.“
    „Oh ja, er hat sich schnell erholt.“ Sienna meinte einen bitteren Unterton herauszuhören. Oder war es Reue? „Und alles wäre wieder in Ordnung gekommen, hätte mein Mann nicht beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Er war nicht gerade für seine Selbstbeherrschung bekannt. Niall hatte zu viel Angst, ihm die Wahrheit zu sagen, und es ging gegen Conans Moralvorstellungen, den kleinen Bruder beim Vater anzuschwärzen. Du musst wissen, mein Mann wirkte recht einschüchternd. Und er hat versucht, Conan büßen zu lassen. Allerdings war Conan zu diesem Zeitpunkt bereits so groß und stark, dass er es sich nicht mehr bieten ließ. Im nächsten Frühjahr ist er weggelaufen, und ich habe ihn erst ein paar Jahre später wiedergesehen, nachdem mein Mann gestorben war. Du weißt ja sicherlich, dass Conan nicht sein Sohn war. Er war das Ergebnis eines kurzen Urlaubsflirts mit einem jungen Piloten. Ich war jung, sorglos und bis über beide Ohren verliebt – zumindest für ein paar Stunden. Seinen Nachnamen habe ich nie erfahren …“
    Sienna wollte etwas fragen, doch April ließ sie nicht zu Wort kommen.
    „In den ersten Jahren haben Conan und ich fest zusammengehalten. Aber nachdem ich geheiratet hatte und Niall auf die Welt gekommen war, konnte Conan es seinem Stiefvater nie recht machen. Mein Mann war furchtbar eifersüchtig auf Conan und hat ihn ständig kritisiert. Es war alles meine Schuld, weil ich Conan so geliebt habe. Er hat es zwar nie ausgesprochen, aber ich weiß, dass er mir die Schuld gibt, weil ich es zugelassen habe. Und ich hätte etwas tun sollen, vielleicht sogar die Scheidung einreichen. Aber vermutlich habe ich meinen Mann trotz allem geliebt. Und ich hatte Angst, dass er das Sorgerecht für Niall bekommen könnte. Das hätte ich niemals ertragen. Also habe ich Conans Wohlergehen für seinen Bruder geopfert. Ich darf ihm nicht vorwerfen, dass er mir niemals verzeihen wird. Denn ich werde mir selbst niemals vergeben können.“
    Verblüfft starrte Sienna ihre Schwiegermutter an. Avril hatte ihr bestimmt nicht das Herz ausschütten wollen, aber dann war das Leid, das sich über Jahre in ihr angestaut