Liebling, Ich Kann Auch Anders
geistreichen Marcel, der ihr Tag und Nacht im Kopf herumspukte, vegetierten sie bei ihr allesamt auf verlorenem Posten dahin. Sie entschuldigte sich bei den Aspiranten mit der Erklärung, es handle sich lediglich um eine Studie, was die Männer verdutzt, gelassen oder verärgert aufnahmen.
Eva fand Konstanz im Frühling zauberhaft. Und wenn es wie aus Kübeln goss, dann verbrachte sie eben noch ein paar Stündchen mehr am Notebook und schrieb Marcel die vierte Mail des Tages. Von ihm bekam sie nach wie vor die erste vor Sonnenaufgang und die letzte lang nach Mitternacht.
»Sag mal, kommst du denn überhaupt noch zu etwas anderem?«, fragte ich sie besorgt, denn ich wusste ja von ihrem Vertrag mit dem Magazin, für das sie monatlich eine Glosse zu liefern hatte. Dieser Vertrag brachte ihr gerade mal so viel ein, dass sie ihre Verbindlichkeiten befriedigen konnte. Im Grunde war sie darauf angewiesen, Reportagen und Features zu verfassen, um sie an entsprechende Printmedien zu verkaufen. Aber daran hatte bereits Ruben sie erfolgreich gehindert, indem er sie permanent für seine Zwecke einspannte: ›Ach bitte, Schätzchen, halt mir die hysterische Alte meines Hauptdarstellers von Leib!‹ / ›Süße, du musst mir einen Gefallen tun und den eifersüchtigen Lover meines Stars ablenken!‹ / ›Schatzi, sei so lieb und bezirze diesen Kotzbrocken von Kritiker mit deinem Charme! Wir brauchen eine gute Presse!‹ / ›Darling, ich muss noch vor Sonnenaufgang eine perfekte Pressemitteilung haben!‹, selbstverständlich zum Nulltarif. Eva konnte sich mit Fug und Recht als Kultursponsorin betrachten.
Sie zerstreute all meine Bedenken mit der Behauptung, die Korrespondenz inspiriere sie derart, dass sie schon genügend Ideen fürs nächste halbe Jahr skizziert habe! Somit erhielt Marcel P. denn doch meinen lauwarmen Segen.
Da Eva in ihrer Annonce als Wunschalter Ende zwanzig bis Mitte dreißig angegeben hatte, sah sie ihn in ihrer Fantasie als attraktiven, großen, starken, dunkelhaarigen Mittdreißiger (ganz wie selbst gebacken …). Dass er intelligent, witzig und gebildet war, wusste sie ja bereits und bekam es täglich aufs Neue bestätigt. Er ließ sie jedoch absolut im Ungewissen über Äußerlichkeiten, sowie er seine Identität völlig im Dunkeln hielt. Zwar konnte sie aus gelegentlichen Sätzen, die Bröseln gleich Persönliches enthielten, einige Informationen zusammenpuzzeln, doch Marcel blieb gern kryptisch. Und sie wagte es nicht, gezielte Fragen zu stellen, denn sie hielt sich ja selbst mit Vorliebe bedeckt.
Ich bekam das Ganze fast hautnah mit, denn oft leitete sie seine Post direkt an mich weiter. Schrieb er etwa am Morgen: ›Schätzchen, du erwischt mich online, weil ich gerade online arbeite, also nicht, dass du denkst, ich sitze harrend, seufzend, schmunzelnd ob deiner wohltuend anregenden Post vor der Flimmerkiste. Mein Los als selbstständig denkender und handelnder Mann, ich weiß: schwer vorstellbar, bringt mich dorthin …‹, dann zerbrachen wir uns am Abend gemeinsam den Kopf, welche konkreten Rückschlüsse sich daraus ziehen ließen.
Leonardo empfand kein großes Interesse an Marcel. Zwar bat er Eva, die Sache auch unter dem Gesichtspunkt ihres gemeinsamen Projekts zu betrachten, doch sonst war ihm das Ganze wohl zu abstrakt. Dafür erwähnte er mehrmals täglich, wie froh er sei, dass Eva bei ihm lebte. Die langen Ferientage hätten möglicherweise eine Gefahr bedeutet, wenn er sich allein in der großen Wohnung aufgehalten hätte. Bei Frau Keller, seiner Vermieterin, wäre er selbstverständlich jederzeit willkommen gewesen, aber er fürchtete einen Rückfall in kindliche Verhaltensmuster. Natürlich saßen Eva und er nicht den ganzen Tag zusammen. Leonardo ging öfter ins Institut, wo er auch Feriensprechstunden abhielt. Und dreimal in der Woche besuchte er das Fitnessstudio im ›Lago‹, dem modernen Geschäftszentrum am Hafen. Manchmal gingen sie gemeinsam ins Jacobsbad, das großartig renovierte Thermalbad mit Zugang zum See, das sie bequem zu Fuß erreichen konnten. Dort traf Leonardo meist Bekannte, denen er Eva – je nach Person – als seine Jugendfreundin oder Partnerin vorstellte. Sie machte ihn lachend darauf aufmerksam, dass er potenzielle Bewerber um ihre Gunst vergraulen könnte. Doch das war natürlich ein Witz. An dergleichen war sie nicht interessiert, denn wo sie ging, stand, lag oder schwamm, dachte sie fast ausschließlich an Marcel und formulierte im
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