Liebling, Ich Kann Auch Anders
Abstinenz schien ihn in eine Art kreative Panik zu versetzen, Angsttriebe bei ihm ausschlagen zu lassen.
Vorrangiges Thema war nun das Treffen. Aber Eva schwankte weiterhin: ›Und wenn wir uns gegenüberstehen, werde ich mich dann, während ich zur Säule erstarre, fragen: Warum hast du dich umgedreht, Frau Lot? Oder wirst du dich fragen: Warum hast nicht geradeaus geschaut, statt dich umzublicken, Orpheus? Warum?‹
Doch Marcel versuchte, ihre Zweifel zu entkräften: ›Ich werde mich in deine Augen vertiefen. I adore you. Und wenn unsere Körper so korrespondieren wie unsere Seelen, wird rot und schwarz in grün und blau umgeschrieben. Denn ich werde aus unserem Akt auftauchen und werde es lieben. Und nie werde ich in der Lage sein, dir auch nur einen Bruchteil dessen zurückzugeben, was du mir bis jetzt schon geschenkt hast.‹
Sie empfand ein schlechtes Gewissen, weil sie fürchtete, sie habe Illusionen erweckt, die sie nie würde erfüllen können. Und nun, als das Verlassen der virtuellen Ebene bevorstand, wurde ihr plötzlich klar, dass sie in Marcel den Mann ihrer kühnsten Wunschträume sah. Und das war höchst unrealistisch. Der Mensch, der sie täglich mehrmals mit Geist, verbalen Zärtlichkeiten und frivolen Worten bedachte, war sicher nicht der junge Adonis mit edlem Gesicht und von großer sportlicher Gestalt. Sie wurde etwas zurückhaltender, was ihm nicht zu entgehen schien, denn er drängte in einer um vier Uhr morgens verschickten Mail: ›Vorhin ist es passiert: Du bist in meinem Traum erschienen, in meinem Schlaftraum. Im Tagtraum kann ich dich nicht mehr wegdenken, geschweige denn ohne dich sein!!! Und schon spüre ich wieder meine Sehnsucht nach dir. Ich werde als Sternschnuppe in dir verglühen, denn ich erfahre, wie alle deine Sinne mich begehren, verführen, wenn du mich anschaust, deine Augen mich erkennen, dein Blick mich entkleidet, du deine Lippen zärtlich öffnest, mich ganz umfasst und bis an dein warmes Herz fühlst. – Wann, wo und wie treffen wir uns endlich?‹
Spätestens nach dieser Mail stand meine Meinung fest, dass der Typ nicht korrekt verschraubt sein konnte und sich meine Freundin möglicherweise in Gefahr begab, wenn sie ihn traf. Deswegen redete ich mit Engelszungen auf sie ein, sich das Treffen reiflich zu überlegen und keinesfalls allein dahin zu gehen. Sie schenkte mir tatsächlich Gehör und versprach, nichts zu überstürzen.
Als er ihr den telefonischen Kontakt verweigerte, war sie tief gekränkt. Die Stimme eines Mannes ist für uns beide gleichermaßen wichtig, und außerdem waren wir übereinstimmend der Meinung, ein Gespräch von wenigen Minuten könnte weit mehr über einen Menschen verraten als hundert Briefe. Wer einen Brief verfasst, kann sich aussuchen, was er preisgibt. Im Gespräch ist ein Ausweichen weit schwieriger und zudem verräterisch.
Aber eben das konnte ja der Grund sein, warum Marcel nicht vor einem Treffen mit ihr sprechen wollte. Andererseits gab’s ja auch keine Schlupflöcher mehr, wenn sie sich trafen. Hatte er vielleicht eine Fistelstimme oder einen Sprachfehler? Oder war er etwa ein Triebtäter, dem das eine Mal genügte, weil er sie dann in der Falle hätte?
Wir zerbrachen uns gemeinsam den Kopf, kamen aber lediglich zu der Ansicht, dass er mit Sicherheit etwas zu verbergen hatte. Zwei Tage vor ihrer geplanten Abreise kam eine Mail, in der Marcel mitteilte, er habe beschlossen, sie zu treffen. Er gab auch Ort und Zeitpunkt an. So ganz, als hätte sie ja ohnehin seit Jahren nichts anderes geplant, als sich mit ihm zu verabreden, wenn er ihr dann den Marschbefehl erteilte. ›Morgen, eins, am Rheinfall. Neutrales Land, neutraler geht’s nicht. Mit dem Vorteil, dass die hohe Luftfeuchtigkeit meine nassen Augen verschleiern wird, wir einen Spaziergang machen können, nachdem du mir wieder das Laufen beigebracht hast. Und so sich denn dein Daumen senken wird, kann ich mich unverzüglich in die Fluten stürzen.‹
Jaja, ich weiß, was Sie jetzt denken! Wir sind hier sehr wohl einer Meinung. Aber in unseren Brüsten schlägt ja nicht Evas Herz, und durch unsere Adern wallt nicht Evas Blut.
Dennoch ließ sie ein winziges Fünkchen Vernunft durchblitzen: Sie versprach, ihm einen Korb zu geben, obwohl sie es hätte einrichten können, denn von selbstherrlicher Terminplanung hatte sie noch aus ihrem Elternhaus die Schnauze voll.
Klar, dass ich sie beglückwünschte und hoffte, mit ihrer Absage könnte sie dem Kerl die Flügel
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