Liebling, Ich Kann Auch Anders
annähernd so zu schätzen wusste wie ich. Wenn nicht, dann würde sie aufs Neue bitter unter der Enttäuschung leiden. Das sollte sie nicht. Ich wollte nicht, dass Eva litt. Auch wenn sie dann verstärkt meine Nähe suchen und mich brauchen würde. Doch es bestand auch die Gefahr, dass Ruben dann wieder bei ihr landen könnte.
Nicht, dass Sie mich jetzt für krankhaft eifersüchtig halten! Es ging hier vielmehr um eine Frage der Gerechtigkeit. Ich ärgere mich eben grundsätzlich, wenn jemand, der es überhaupt nicht verdient, mehr von Eva abbekommt als ich, die wirklich nur ihr Bestes will. Neid liegt mir im Grunde ja ebenfalls fern, obwohl ich einräume, dass die Vorstellung, mit einem Unbekannten einen so geistreichen Briefwechsel zu führen, wie Eva das mit Marcel gelang, schon über besonderen Reiz verfügte. Schließlich waren mir noch nicht viele Männer begegnet, mit denen Ähnliches möglich gewesen wäre. Eigentlich kein einziger! Welcher Mann schreibt denn heute überhaupt noch mehr als das unbedingt geschäftlich Notwendige?
Zugegeben, ein wenig wurmte es mich schon, dass Eva sich an Marcels Esprit ergötzen durfte, während ich mich mit meinem Untermieter auf Zeit beim Abendessen durch zähe Gesprächsrunden boxen musste.
»Soso, Sie übersetzen also Bücher. – So richtige Bücher?« Er sah mich mit großen Augen an.
Haha, Scheckbücher werden’s wohl kaum sein!
»Ja, früher hab ich auch mal Bücher gelesen«, behauptete er mit verträumtem Blick. »Karl May. Bis auf drei oder vier hab ich sie alle verschlungen. Aber heute hab ich für solchen Luxus wahrhaftig keine Zeit mehr.«
Er war kein unangenehmer Mensch, sonst hätte ich mir vorher eine Ausrede einfallen lassen. Ingenieur, Anfang vierzig, selbstbewusst und recht gut aussehend, aber zur Konversation unfähig. Er monologisierte lediglich. Über seinen Job, seine Vergangenheit (einschließlich Bundeswehr) und seine Urlaubspläne. Wir saßen im Restaurant, aßen und tranken sehr gut, aber ich ertappte mich dabei, dass ich mich nach meiner Arbeit sehnte. Die Übersetzung, an der ich gerade arbeitete, machte mir wirklich Spaß. Der amerikanische Autor liebte Wortschöpfungen und Wortspiele, eine große Herausforderung, die ich als höchst kreativ empfand.
Gut und schön. Aber in Gesellschaft eines Mannes wie Marcel P. hätte ich ganz bestimmt nicht ans Arbeiten gedacht, sondern wir hätten beide Geistesblitze zucken lassen, die jeder Gewitternacht zur Ehre gereicht hätten.
Seine Briefe enthielten schon nach drei Tagen eine ausgeprägt erotische Note: »Liebste Ariadne, für mich ist nicht der Weg das Ziel, sondern die Belohnung, die mich an selbigem erwartet. Wohin wird mich der Weg zu Dir (ver-)führen …? – I love your soul and want to feel your body …«
Und das war nur der Anfang. Klar, dass Eva begeistert war, animiert und inspiriert durch Marcel P. Nie zuvor im Leben hatte sie eine derart spontane, freche, intensive und witzige Korrespondenz geführt. Sie verliebte sich in den amüsanten Unbekannten, ohne zu wissen, wer er war, was er tat oder wie er aussah.
»Ich sag’s ja, die liebe Eva steht auf Brain-fucking«, meinte Sibylle, die sich regelmäßig über Evas Schicksal informieren ließ. Diesmal von mir bei einer Einladung zum Hummer, mit der sie sich über die Zuführung eines neuen Klienten bedankte. Es handelte sich dabei um meinen aktuellen Untermieter, der mit ihr wahrhaftig besser bedient war als mit mir. Sie zeigte ihm die angesagten Lokalitäten der Stadt und vermittelte ihm die aufbauende Überzeugung, dass sein hart verdientes Geld höchst vorteilhaft angelegt war, wenn er sich selbst im Vertrauen auf sie Gutes tat. So wurde er zwar etliches mehr los, als er einsparte, indem er aufs Hotel verzichtete, aber Sibylles Beratung war schließlich eine Investition von unschätzbarem Wert für seine weitere Zukunft.
Leonardo tat neue Männer auf. Eva war stark gefordert. Sei’s, dass sie die Zuschriften beurteilen, Telefongespräche entgegennehmen oder mit anhören musste. Leonardo, weit davon entfernt, ihre sinnvollen Ratschläge zu befolgen, erlebte und erlitt immer wieder neue Enttäuschungen, konnte jedoch zunehmend besser damit umgehen. Seine Seele bekam allmählich eine Hornhaut.
Eva traf sich mit ein paar der über dreißig Männer, die auf ihre Annonce geantwortet hatten, konnte sich aber für keinen einzigen erwärmen, obwohl die meisten großes Interesse an ihr signalisierten. Neben dem
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