Liebling, Ich Kann Auch Anders
Lebensinhalte zu definieren. Sibylle war auch in diesen Bereichen überaus kompetent. Schließlich hatte sie zwei Scheidungen zu ihrer Zufriedenheit hinter sich gebracht. Ihre erste Ehe hatte kaum mehr als ein Jahr gedauert. Es war im Grunde das Klischee vom Starfotografen, der eine hübsche Studentin im Café anspricht, ihr vorgaukelt, sie zum Supermodel zu machen und ihr somit die willkommene Chance bietet, der bedrückenden Enge ihres Elternhauses zu entkommen.
Dieses war nämlich ziemlich problematisch für eine hübsche, intelligente Zwanzigjährige, die soeben entdeckt hatte, dass die Welt ihr offenstehen könnte, wenn es ihr nur gelänge, den Panzer ihrer kleinbürgerlichen Erziehung zu sprengen. Der Vater war in der x-ten Generation Justizvollzugsbeamter, ihre Mutter entstammte einer Maurerfamilie.
Eva und ich, die bildungs- und kulturbeflissenen Kreisen entstammen, hätten selbstverständlich jeglichen Vorwurf des Standesdünkels entrüstet von uns gewiesen. Aber interessanterweise war Dr. Gallus’ Kommentar, als Eva Sibylle einmal mit nach Hause brachte, »armer, aber reinlicher Leute Kind«, was seiner ironischen Art der Milieuanalyse entsprach. Meine Mutter stand ihm auf diesem Sektor keinen Millimeter nach: »Ich wette, bei denen daheim wurden die Hausaufgaben am Küchentisch gemacht.«
Ich muss zugeben, dass mich diese Äußerung vor zwölf Jahren geradezu in Rage gebracht hatte. Aber sie entsprach ärgerlicherweise den Tatsachen. Wie die allermeisten Einschätzungen meiner scharfsinnigen und -züngigen Mutter ins Schwarze trafen.
Ich war zweimal im Hause Babl und tatsächlich die meiste Zeit in der Küche. Als Sibylles Freundin war ich von untergeordnetem Status, und so war es nicht nötig, das Wohnzimmer freizugeben. Dabei fand ich das Wohnzimmer sehr beeindruckend. Es wirkte respekteinflößend wie ein musealer Raum. Alte, dunkle, doch kaum benutzte Möbel, ein staubfreier, relativ grob geknüpfter Orientteppich, Kristallschale und -vase auf Häkeldeckchen, ein Porzellan-Schäferhund auf dem Vertiko, eine Spitzentischdecke mit langen Fransen, zwei Ölgemälde, die Berglandschaften mit Schafen und Rindern zeigten. Kein einziges Buch – dafür die Unbekannte aus der Seine.
Ja, wirklich! Ich sah das in Ton gegossene Gesicht einer hübschen jungen Frau bei Babls das erste Mal. Für Eva war die Unbekannte eine Bekannte aus frühen Kindertagen. Sie hing nämlich im Hausflur der damaligen Putzfrau ihrer Eltern. Nach meinem Besuch bei Babls überlegten wir uns einen Abend lang und eine Flasche tief, was Millionen von Menschen dazu bewegen konnte, die Totenmaske einer Wasserleiche im trauten Heim an die Wand zu hängen. Für die Sensiblen und Fantasievollen mochte sie die Faszination des Unergründlichen ausstrahlen. Für andere war sie vielleicht eine Aufforderung zur Bescheidenheit, eine Bremse für allzu kühne Sehnsüchte nach Ferne, Weltstadt und Abenteuer. Klar, wer treu und brav in seinem Kaff bleibt, kann nicht in der Seine ertrinken. Jung war sie gestorben, eine schöne Frau, die niemand zu identifizieren vermochte. Jung und schön zu sterben, ist ohnehin eine gute Voraussetzung, um zum Mythos zu werden. Darüber hinaus wurde die Unbekannte mit friedlichem Gesicht aus der Seine gefischt und mit über der Brust gefalteten Händen! Wer war sie? Eine Heilige? Ein Straßenmädchen, das sich im Tod besser beheimatet fühlte als auf dem Strich? Ein naives Kind aus einer fernen Garnisonsstadt, ein sitzen gelassenes Soldatenliebchen, das dem Geliebten nach Paris gefolgt war – im Liebeswahn, wie einst Adèle Hugo ihrem Angebeteten? Der Geliebte, ein ängstlicher Familienvater, hatte sie dann vielleicht nach einer letzten Umarmung erdrosselt und in die Seine geworfen. Doch sie hatte sterbend Frieden geschlossen. Etwa weil sie im Tod die sicherste Möglichkeit für eine nie endende Liebe sah?
Als wir Sibylle damals nach der Totenmaske fragten, konnte sie uns keine Erklärung geben. Ihre Eltern hatten sie zur Hochzeit geschenkt bekommen. Welch sinnvolles Geschenk für eine Braut! Eins, das ihr bei jedem Abstauben klar macht, wie zufrieden sie mit ihrem bescheidenen Schicksal sein kann.
Die am Küchentisch erledigten Hausaufgaben führten dazu, dass Sibylle als Erste in ihrer weitverzweigten Familie das Abi schaffte und dann sogar zu studieren begann. Bis ihr Herbert begegnete und noch strahlendere Gipfel in Aussicht stellte. Sibylles Vater war der Kerl von Anfang an suspekt – wie fast alle
Weitere Kostenlose Bücher