Liebling, Ich Kann Auch Anders
Telefonkultur zu entwickeln. Das machte sich jetzt schmerzlich bemerkbar. Subjektiv gesprochen. Nun sah es nämlich so aus, dass ich zwar meistens zu erreichen war, er sich aber nicht meldete und ich mich gern gemeldet hätte, aber nicht wusste, wie ich ihn erreichen konnte. Während seiner Radtour hatte er mich einmal kurz auf dem Handy angerufen, um mich zu bitten, einen Brief einzuwerfen, den er in seiner Jackentasche vergessen hatte. Das ließ sich von Konstanz aus schlecht besorgen. Aber nach meiner Heimkehr war das eine meiner ersten Handlungen.
Die Auskünfte über seine Tour waren eher einsilbig und das Gespräch schnell zu Ende. Doch das hatte mich nicht allzu tief berührt, denn Evas Präsenz hatte mir dabei geholfen, die minimale Verstimmung rasch zu überwinden. Nun saß ich aber allein in Evas Wohnung, die mir trotz der überaus gemütlichen Einrichtung mit einem Mal so groß, kalt und leer vorkam.
›Arbeit ist die beste Medizin‹, sagt meine Mutter immer, obwohl der Volksmund das ja vom Lachen behauptet. Aber da es gerade nichts zu lachen gab, folgte ich dem mütterlichen Motto, setzte mich an den Computer und die Lektüre von Evas Tagebuchaufzeichnungen fort. Ich kam natürlich auch drin vor, und sogar gut weg. Dafür umarmte ich sie in Gedanken. Mein Geist wurde von Ideen geradezu überflutet, aber ich hatte noch keinen Einfall, wie und zu welchem Zeitpunkt ich beginnen sollte. Andererseits wollte ich aber nicht, dass die Gedanken sich wieder verflüchtigten. Also installierte ich eine Datei unter dem Namen ›Roko‹, für Romankonzept. Darin fixierte ich meine ungeordneten Ideen. Als ich nach einer Weile auf die Uhr sah, waren mehr als vier Stunden wie im Flug vergangen. Ein erhebendes Gefühl: Ich schreibe meinen ersten eigenen Roman!
Von Evas Datei aus unternahm ich einen virtuellen Spaziergang in die Marcel/Magnus-Korrespondenz-Datei. Sie umfasste über zweihundert Seiten! Ich klickte mich punktuell hinein, las mich jedoch immer wieder fest.
Nun, da ich in seinem Garten gesessen hatte, berührten die Texte, die ich ja zum Teil schon kannte, mich wesentlich tiefer. Das heißt, ich fabrizierte in meiner Fantasie einen Film aus seinen Schrieben, der Kulisse seines Domizils und der Beschreibung, die mir Eva von diesem außergewöhnlichen Mann gegeben hatte. Mein Kopfkino erinnerte stark an die Romantikschinken, die gelegentlich sonntagabends über den Bildschirm flimmern, die ich aber erst selten gesehen habe, weil meist gleichzeitig ein Tatort kommt, dem Eva und ich immer den Vorzug geben. Das Kontrastprogramm (das gelegentlich nachmittags wiederholt wird) spielt meist in britischen Küstenregionen, die mir aus der Lektüre meiner Kindheit vertraut sind und die auf meiner Wunschreisenliste ziemlich weit oben rangieren.
Aber plötzlich erfolgte in meinem Kopffilm ein Bruch. Die heile Welt, in der Gut und Böse glasklar zu durchschauen und exakt auseinanderzuhalten sind, bekam Kratzer und Brüche. Das Strahlende versackte im düsteren Chaos. Der Strahlemann wurde zum Gangster … Fantasien, die ihren Eingang ins ›Roko‹ fanden.
Das Telefon klingelte. Beni, dachte ich und überlegte, ob ich ihm von meinem neuen Projekt erzählen sollte. Nein, lieber nicht, sonst wollte er am Ende noch mitreden! Doch es war Sibylle. Sie lud mich auf einen prickelnden Ausklang des Tages ins Penthouse ein. Ich dachte über eine Ausrede nach, weil ich weiterschreiben wollte, aber dann überlegte ich es mir anders. Fast sechs Stunden hatte ich getippt. Ich wollte keine Verspannung der Nacken- und Schultermuskulatur riskieren. So lautete zumindest die vernünftige Begründung. Tatsächlich aber hatte ich Lust, mit Sibylle zu lästern, lachen und mit ihr über meinen Roman zu sprechen und aus ihren Kommentaren weitere Impulse zu ziehen. Außerdem hielt ich es für sinnvoll, für Beni nicht erreichbar zu sein. Ich nahm aus Promille-Gründen die U-Bahn und war zwanzig Minuten später am Ziel.
Sibylle verbreitete eingangs wie üblich geschäftige Hektik, bevor sie, tief im Sofa versunken, das erste Glas Champagner getrunken hatte. Dann kam sie ins Plaudern und fand kein Ende mehr. Am Mittag war sie von einem Termin in Berlin zurückgekommen und übermorgen früh würde sie mit einer Klientin zusammen verreisen, zu einer Thalasso-Kur in die Bretagne. Die Klientin würde selbstverständlich alle Spesen übernehmen, und Sibylles Aufgabe bestand darin, die Dame in Sachen Scheidung zu beraten und mit ihr neue
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